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von Rigoberto Castañeda




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Edward mit den Scherenhänden

Edward mit den Scherenhänden

Ein Film von Tim Burton

Es war einmal das alte Märchen vom Prinzen, der herbeieilt, seine Prinzessin aus dem hohen Turm zu erretten. Obschon es eines der ältesten der Welt ist, hat es überraschenderweise all die Jahre bis heute fast unbeschadet überstanden. Zwar nagt der Zahn der Zeit in Form von meterdicken Staubschichten weiterhin unaufhörlich, doch die Standhaftigkeit beweisende Mär dauert fort und entwickelt beizeiten immer neue, interessantere Ausprägungen. Etliche Mädchen von heute träumen etwa von dem sagenumwobenen Traumprinzen hoch zu Ross: ein Umstand, der dem Märchen bisweilen seinen fantastischen Boden entzieht und es (zumindest leicht) im gegenwärtig-realen Hier und Jetzt verwurzelt. Und manchmal, aber nur manchmal kann für den ein oder anderen selbst ein solches Märchen wahr werden.


Was gilt jedoch dann, wenn der Prinz sich nicht so recht den Idealvorstellungen der holden Maid unterwerfen will? Zerplatzt der Traum wie eine Seifenblase? Oder obsiegt letzten Endes doch die Liebe, die keine Grenzen kennt? Zumindest gibt es hierfür zuhauf Beispiele in der Literatur, sei es nun der märchenhafte Froschkönig, der erst nach einem Wurf an die Wand sein wahres Gesicht zeigt, oder das französische Volksmärchen von der Schönen und dem Biest – am Ende stellte sich jedes Mal ein Gefühl schützend vor alle Widrigkeiten und sorgte für ein sorgenfreies Ende bis in alle Ewigkeit. Friede, Freude, Eierkuchen.
Die Realität kennt nur leider keine vergl
eichbar allgemeingültige Gesetzmäßigkeit, so dass sich nur allzu oft die Märchenstunde im Kopf schlicht als ebensolche entpuppt und unsereins unsanft zurück auf den mit Scherben übersäten Boden der Realität geführt wird.


Auf diesem Boden wandelt Edward (tolle Vorstellung: Johnny Depp, „Dead Man“ [1995], „Fluch der Karibik“ [2003]), der durchaus als „Prinz von der traurigen Gestalt“ durchgehen könnte, wären da nicht einige Feinheiten: so ist Edward weder Prinz noch von offensichtlich trauriger Gestalt. Edward ist im Grunde ein Mensch wie Du und Ich, er wurde lediglich künstlich geschaffen. Und sein Äußeres ist ob der Tatsache, dass er statt Händen Apparaturen sein Eigen nennt, die aus Scheren und Messern bestehen, eher als bizarr anmutend denn traurig zu bezeichnen. Diese wenn überhaupt tragische Gestalt fristet ihr Dasein im Schloss ihres Schöpfers (Vincent Price, „Das Kabinett des Professor Bondi“ [1953], „Das Schreckenscabinett des Dr. Phibes“ [1971]), der starb, bevor er die fehlenden Gliedmaßen ansetzen konnte. Einsamkeit bestimmte fortan das Leben Edwards, bis eines Tages die Avon-Mitarbeiterin Peg (Dianne Wiest, „Footloose“ [1984], „The Lost Boys“ [1987]) das Schloss betritt und auf ihn trifft. Ihr bricht es das Herz, den Armen derart vereinsamt in dem riesigen Anwesen hausen zu sehen, weshalb sie ihn kurzerhand aus Mitleid mit nach Hause nimmt. Noch weiß der gutherzige Edward nicht, dass Peg eine Tochter namens Kim (süß: Winona Ryder, „A Scanner Darkly“ [2006], „Star Trek“ [2009]) hat, welche Edwards Leben schon bald gehörig auf den Kopf stellen wird. Genauso wenig rechnet der Gute auch nur im Geringsten mit den Konsequenzen, die durch sein Auftauchen in der Stadt hervorgerufen werden. Wird der Mann mit den Scherenhänden in dieser ihm so unbekannten neuen Pastellfarben-Welt bestehen können?


„EDWARD MIT DEN SCHERENHÄNDEN“ sollte den Beginn einer bis heute andauernden, äußerst ergiebigen Zusammenarbeit markieren: als Tim Burton einen jungen Schauspieler für die Hauptrolle seines modernen Märchens suchte und ihn mit dem damals 27-jährigen Johnny Depp (der damit Tom Cruise und Robert Downey Jr. ausstach) fand, legte er unbewusst den Grundstein für ein Dreamteam, wie es in der Traumfabrik nur selten anzutreffen ist. Aus dieser innigen Freundschaft gingen bisher sechs gemeinsame Filme hervor (zuletzt „Sweeney Todd“ [2008]), für kommendes Frühjahr steht die siebte Kooperation in Form der 3D-Verfilmung zu „Alice im Wunderland“ schon in den Startlöchern. Grund genug, die märchenhafte Fantasy-Tragikomödie, mit der alles seinen Anfang nahm, in Hinblick auf das bisherige Œuvre Burtons einmal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.
All seinen Filmen haftet bis heute die untrügliche Fähigkeit an, schräge Aspekte gekonnt mit teils komischen, teils morbid-makabren Facetten zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden. Dieses Markenzeichen fand sich bereits in den ersten Langfilmen „Beetlejuice“ [1988] und „Batman“ [1989], und auch der nachfolgende „Edward Scissorhands“ stellt keine Ausnahme von der Regel dar. Das moderne Märchen präsentiert mit Edward einen schrägen, gleichwohl uneingeschränkt liebenswerten Charakter, der aufgrund seiner Schüchternheit weniger durch das gesprochene Wort, sondern mehr durch das besticht, was er tatsächlich macht. Angetrieben von einem durch und durch guten Herzen, das sich leider als viel zu anfällig für Einflüsse von außen erweist, versucht der Mann mit den Scherenhänden, der zuvor nur die Liebe eines Vaters zu seinem Kind kennengelernt und viel zu früh wieder verloren hat, das Herz seiner Angebeteten zu gewinnen. Gekonnt webt Burton besagte Vater-Sohn-Beziehung als kurze Rückblicke in die stringent erzählte Geschichte ein und erlaubt dem Zuschauer auf diese Weise, tiefer in die Gefühlswelt dieses künstlich geschaffenen Menschen einzutauchen, als es Worte jemals bewerkstelligen könnten (ein Umstand, der sich noch als nützlich erweisen soll). Anrührende Momente sind dies. Momente, die gleichzeitig dem großen Vincent Price (hier in seiner vorletzten Rolle) huldigen wie damals der fast gänzlich unbekannte Burton-Kurzfilm „Vincent“ [1982].


Doch Tim Burton wäre nicht er selbst, würde er in ausschweifende Gefühlsduseleien verfallen. Selbst sein bisher wohl reifster Film „Big Fish“ [2003] – eine zu Herzen gehende Parabel über die Macht des Erzählens – war fantasievoll, ironisch, skurril. So entwickelt sich die Mär vom Mann mit den Scherenhänden nach und nach zu einer modernen Variante des eingangs erwähnten klassischen „Schöne und das Monster respektive Biest“-Motivs – mit allen Konsequenzen und der vollen Bandbreite an Eifersucht, unerwiderten Gefühlen und dem Kampf um die Liebe. Unmerklich wird die Grenze zwischen Märchen und Realität durchbrochen, scheint das Märchen seine vormals mühsam verankerten Wurzeln an die gemeine (Film-)Realität zu verlieren. Und plötzlich droht ein Happy End, wie es in den meisten Volksmärchen vorkommt, in gar unerreichbar weite Ferne zu rücken. Aber was ist eigentlich ein „glückliches Ende“? Ist es nicht schlicht eine subjektive Empfindung, die jeder anders wahrnimmt?
Burton spielt während seines Films absichtlich und äußerst geschickt mit den individuellen Vorstellungen der Zuschauer, indem er sein Filmende bewusst auf den Gemütszustand Edwards ausrichtet und uns gewissermaßen kurz in die Rolle der tragischen Figur transferiert. Nur derjenige, der sich Edwards Vorstellung eines glücklichen Endes zueigen macht, also eins wird mit ihm und seinen Gedanken, wird letztlich in der Lage sein, den einzig richtigen Schluss zu ziehen. Und erkennen, dass es eigentlich viel, viel öfter schneien sollte.
Edwards fiktive Geschichte spannt somit ihrerseits den Bogen in unsere Realität, fasst als modernes Filmmärchen Fuß, indem es von Liebe, Vergänglichkeit und Tod berichtet, ohne auch nur annährend belehrend oder gar moralisierend zu wirken. Die Geschichte vom liebenswerten Scherenmann ist schlicht und ergreifend eine Geschichte vom Anderssein in einer Welt, die mitunter einfach nicht verstehen oder akzeptieren will, dass manch einer erst noch seinen Platz in ihr finden muss. Ein altbekanntes Thema im typischen „burtonesken“ Gewand, fantasievoll, mit ruhiger Hand inszeniert und gekonnt von Danny Elfmans gelungenem Score untermalt.


„EDWARD MIT DEN SCHERENHÄNDEN“ ist nicht nur ein kleines, fast perfektes Meisterwerk über die Liebe, die vor Äußerlichkeiten nicht Halt macht, sondern vor allem ein fantasievolles, trauriges, aber auch grundehrliches Märchen, das beweist, dass Hoffnung und Glück sich (wie man selbst) trotz aller Widrigkeiten durchaus einen rechtmäßigen Platz in dieser Welt erkämpfen können. Aufgrund der individuellen Vorstellung eines Jeden sogar in Gestalt von Schnee.


Und die Moral von der Geschicht’: Auch wenn alles andere zum Scheitern verurteilt scheint: die Hoffnung stirbt zuletzt. Wollen wir einfach hoffen, dass sie noch lange, lange Zeit bei guter Gesundheit ist.

Eine Rezension von Stefan Rackow
(07. Oktober 2009)
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Daten zum Film
Edward mit den Scherenhänden USA 1990
(Edward Scissorhands)
Regie Tim Burton Drehbuch Caroline Thompson Story Tim Burton & Caroline Thompson
Produktion Tim Burton, Denise Di Novi (20th Century Fox) Kamera Stefan Czapsky
Darsteller Johnny Depp, Winona Ryder, Dianne Wiest, Anthony Michael Hall, Kathy Baker, Robert Oliveri, Conchata Ferrell, Caroline Aaron, Dick Anthony Williams, O-Lan Jones, Alan Arkin, Vincent Price
Länge 101 Minuten FSK ab 6 Jahren
Filmmusik Danny Elfman
Special Makeup- und Maskeneffekte Stan Winston
Visuelle Effekte und Miniaturbauten Stetson Visual Services, Inc

Anmerkung des Autors Aus Differenzierungsgründen wurden keine 6, sondern 5 Sterne vergeben. Dies entsp
Kommentare zu dieser Kritik
Damocles TEAM sagte am 08.10.2009 um 08:57 Uhr

Und warum nur fünf Sterne, wenn du am Ende sogar von einem Meisterwerk sprichst?
Stefan R. TEAM sagte am 08.10.2009 um 09:22 Uhr

Da es leider (noch) nicht möglich ist, halbe Sterne zu geben und ich BIG FISH (6 Sterne) etwas mehr als EDWARD schätze, habe ich aus Differenzierungsgründen notgedrungen einen Stern weniger gegeben. Aus dem Text sollte jedoch auch so hervorgehen, dass EDWARD ein sehr guter Film ist (eben nur nicht Burtons reifster).
Zombie-mower TEAM sagte am 08.10.2009 um 14:50 Uhr

auch meiner Meinung nach, eine in seiner Gesellschaftskritik (an dem unteleranten und unterbelichteten amerikanischen Spießbürgertum) und explodierender Fantasie (Edwards Outfit und Charakter, die Bauten, die Ideen und Storyline) kaum erreichbare Tragikomödie;
Tim Burton beweist für mich in diesem Film, dass er einen massentauglichen Beitrag zur Popkultur mit einer arthouse-Produktion virtuos verbinden kann;
bin endlos beeindruckt - ein surreales, melancholisches, zynisches und innovatives Meisterwerk
an dem Film gibts für mich nichts auszusetzen

"Big Fish" zieht in meiner Hinsicht beim Vergleich den Kürzeren (5 Sterne), weil er zu sehr abschweift und nicht die abgerundete, erzählerisch dichte Form erreicht wie Burtons Vorgänger (z.B. "Batman", "Sleepy Hollow", "Beetlejuice" und natürlich "Edward Scissorhands")
somit nur 5 Sterne
travisbickle TEAM sagte am 09.10.2009 um 16:29 Uhr

Ich glaube für mich ist BIG FISH der beste Burton. Vor NIGHTMARE BEFORE CHRISTMAS und SWEENEY TODD. Ach der hat so viele gute Filme. EDWARD... ist natürlich auch sehr schön, klar... aber BIG FISH - ein Traum!!

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