Zuweilen ist es lediglich eine Frage der Zeit, bis die verlorenen Kinder heimkehren: Bevor Kinofantast
Tim Burton die Leinwände dieser Welt mit seinen eigenwilligen Langfilmwerken beglücken sollte, war der Regisseur mit einem Hang zum Skurrilen zunächst einige Jahre als Zeichner beim
Disney-Konzern angestellt, in dessen Auftrag er 1982 mit „
Vincent“ seinen ersten preisgekrönten Kurzfilm als Autor und Regisseur realisierte. Bereits in diesem Frühwerk kristallisierte sich mit dem Stilmittel des gothic-expressionistischen Designs Burtons Faible für düstere, teils auch morbid anmutende Wunderwelten heraus, das sich bis dato in nahezu allen seiner Filme wiederfinden lässt. Warum unter dieser Prämisse beinahe 30 Jahre ins Land strichen, bis jemand schließlich auf die Idee kam, einem der legendärsten
Disney-Klassiker den individuellen Stempel dieses Ausnahmetalents aufzudrücken, führt momentan nur zu wilden Spekulationen. Klar ist einzig, dass
Lewis Carrolls Geschichte
Alice im Wunderland, die Buchvorlage für den gleichnamigen Zeichentrickfilm und (bis heute) 25 weitere Verfilmungen, mit ihrem skurrilen, überbordenden Humor seit jeher schlicht eine zu große Spielwiese darstellte, als dass ein Visionär vom Schlage eines Tim Burton sich nicht eines schönen Tages auf ihr austoben würde.
Seine Multimillionen-Dollar-Version des klassischen Stoffes versteht si
ch jedoch nicht als Remake im herkömmlichen Sinn, sondern spielt zeitlich 13 Jahre nach der ersten traumwandlerischen Reise ins Unter- respektive Wunderland. Mittlerweile kann sich die 19jährige Alice (Mia Wasikowska) nicht mehr an die zurückliegenden Abenteuer erinnern, wird jedoch hier und da von seltsamen Träumen heimgesucht. Zeit, diese genauer zu hinterfragen, hat sie aber nicht, findet sie sich doch plötzlich auf ihrer eigenen Verlobungsfeier wieder. Zu dumm nur, dass Alice bis zu dem peinlichen Moment, da der langweilige Hamish (Leo Bill) vor den Augen aller Anwesenden um ihre Hand anhält, nichts von ihrem Glück wusste. Wie passend, dass ein nur von Alice bemerktes weißes Kaninchen mit Weste und Taschenuhr Grund genug gibt, den Heiratsantrag unbeantwortet zu lassen. So lässt die Heranwachsende ihren Möchtegern-Zukünftigen kurzerhand stehen und folgt stattdessen dem Kaninchen zu einem Kaninchenbau – nur um hineinzufallen und in einer Fantasiewelt zu landen. Fortan wandelt Alice mit großen Augen durch die bunte Anderswelt, erkennt jedoch schon schnell, dass etwas nicht stimmt: die Königin in Rot (Helena Bonham Carter) hat das Reich ihrer weißen Schwester (Anne Hathaway) unterjocht, und laut Prophezeiung kann nur die einzig wahre Alice den ursprünglichen Zustand wiederherstellen. Zusammen mit dem verrückten Hutmacher (Johnny Depp) begibt sich die 19jährige auf eine abenteuerliche Reise – und auf die Suche nach sich selbst…
Was für eine Vorstellung: Tim Burton verleiht einer klassischen Geschichte wie
Alice im Wunderland seine unvergleichliche Gothic-Ästhetik, lässt
Johnny Depp („
Wenn Träume fliegen lernen“ [2004]) den verrückten Hutmacher spielen und das turbulente Geschehen von seinem Haus- und Hofkomponist
Danny Elfman („
Terminator - Die Erlösung“ [2009]) musikalisch untermalen. Eigentlich kann dabei nur etwas wahrlich Großes herauskommen. Und in der Tat besitzt das Quasi-Sequel zu den Büchern
Alice im Wunderland und
Alice hinter den Spiegeln bereits in den ersten Minuten einen gewissen Charme, der vor allem durch das Gegenüberstellen der versnobt-aristokratischen Realität mit dem schräg-bunten Wunderland transportiert wird. Hier ist Alice eine junge Erwachsene, die nicht mehr traumwandlerisch durch eine Welt stolpert, welche uns als alternative Wirklichkeit verkauft wird. Vielmehr glaubt sie sich nun von Anfang an in einem Traum, hat jegliche Form von kindlicher Fantasie und Unbekümmertheit zugunsten einer nunmehr erwachseneren Sicht- und Betrachtungsweise abgelegt. Newcomerin
Mia Wasikowska („
Rogue“ [2007]) wirkt nicht umsonst in den ersten Minuten wie ein Fremdkörper in dieser so anderen Welt, nur um am Ende zu erkennen, dass die Fantasie nun einmal zum Leben dazugehört. Denn was wäre das Leben ohne Träume, das Wunderland ohne jemanden, der es sich vorstellt? Wie einst Michael Ende in seiner
„unendlichen Geschichte“ durchbricht Burton in den letzten Filmminuten die schmale Grenze zwischen Realität und Fiktion, als der Hutmacher erkennt, dass er wohl nur ein Fantasiegebilde darstellt. Die Fiktion weiß nun plötzlich, dass sie eine solche ist, und führt den Film kurzzeitig auf eine übergeordnete Ebene und damit in tiefgründigere Sphären, als man es vielleicht von der mittlerweile 27. Verfilmung altbekannter Lewis Carroll-Motive erwartet hätte.
Doch leider ist diese Zeit nicht von Dauer, da sich Burton von seinem Habitus, so weit wie möglich von übermäßigen Effekten Abstand zu nehmen, hier zum ersten Mal in seiner langen Karriere mehr als nur überdeutlich entfernt. Zwar liegt es auf der Hand, dass die Computer nach dem heute technisch Machbaren fast jede Vorstellung in gerenderte Bilder umwandeln können, und so gut wie kein Regisseur eines Blockbusters wird heute noch hierauf verzichten wollen. Doch „
Avatar“ [2009] hat unlängst die Grenzen ausgelotet, an die die Alice des neuen Jahrtausends nun stößt. Die Surrealität der Vorlage geht vollends unter in der bunt überzeichneten Wunderwelt, die ihre Herkunft aus dem Computer schlichtweg nicht leugnen kann, was das eigentlich Fantastische ins seelenlos Künstliche zieht. Wenn Pferde mehr schlecht als recht animiert durch die fantasievolle Fauna galoppieren und der Greenscreen-Einsatz in jeder einzelnen Szene erkennbar ist, dann fragt man sich zwangsläufig, ob das geschätzte $200 Mio.-Budget nicht an anderer Stelle sinnvoller hätte verwendet werden können, denn bahnbrechend sind die Effekte trotz etlicher Effekte-Firmen hinter den Kulissen zu keinem Zeitpunkt, was den ansonsten soliden Film aufgrund seiner Ausrichtung gehörig Herz und Seele einbüßen lässt. Vor allem die nachträgliche Konvertierung in 3-D ist hier nur eine teure Spielerei, die ihre zusätzlichen Kosten nicht wert ist.
Das wäre alles gar nicht sonderlich schlimm, würde sich die eingangs erwähnte Tiefgründigkeit oder zumindest Burtons Markenzeichen – der skurrile Humor – auch auf den gesamten Film niederschlagen. Doch das Drehbuch von
Linda Woolverton („
Der König der Löwen“ [1994]) bietet leider eine für familientaugliche Fantasy-Epen à la „Der goldene Kompass“ [2007] übliche und damit überschaubare Dramaturgie, die gezielt auf einen Höhepunkt in Form des obligatorischen Kampfes Gut gegen Böse hinzielt. Und plötzlich scheint jeder vorherige Anflug von Burtons
besonderer Inszenierkunst (der Film hat durchaus seine Momente) einer familienfreundlicheren Ausrichtung weichen zu müssen, die auch die letzte Grobheit weichspült, bis sie kaum mehr als solche erkennbar ist.
Helena Bonham Carter („
Fight Club“ [1999]), die als Königin in Rot gerne mal den ein oder anderen Kopf rollen lässt, ist am Ende im wahrsten Sinne des Wortes gar nur noch eine aufgeblasene Despotin, die ihre Grausamkeit unter dem karikierenden Mantel der Überzeichnung versteckt. Müßig zu erwähnen, dass das obligatorische Happy End in diesem Fall auch eine Spur zu zuckrig, in jedem Fall für einen Burton-Film allzu
brav ausfällt. Selbst „Charlie und die Schokoladenfabrik“ [2005] wusste die satirischen Seitenhiebe der Vorlage deutlich besser und frecher zu verarbeiten. Schade drum.
„ALICE IM WUNDERLAND“ ist trotz aller Kritik sicherlich sehenswert und unterhaltsam. Dennoch muss er sich in Burtons Œuvre bei den nur durchschnittlichen Werken einreihen, zu einfallslos ist die vordergründige Reißbrettdramaturgie, zu effektzentriert die komplette Inszenierung. So blitzt an allen Ecken und Enden das der Geschichte innewohnende Potential auf, doch wirklich öffnen kann Burton die Tür zu seinem persönlichen Wunderland nicht. Vielleicht hat Auftraggeber
Disney ja von Anfang an den dafür benötigten Schlüssel unter Verschluss gehalten. Der eigenwillige Regisseur Tim Burton ist jedenfalls nur dann am Besten, wenn man ihm weitestgehend freie Hand beim Inszenieren lässt.
Dazu braucht's nicht einmal viel Fantasie.