„... Nein, es ist unmöglich; es ist unmöglich, die Lebendigkeit irgendeines Abschnittes aus unserem Dasein wiederherzustellen, – das, was die Wahrheit, den Sinn und das innerste Wesen eines Erlebnisses ausmacht. Es ist unmöglich. Wir leben wie wir träumen – allein ...“
(aus Joseph Conrads
„Herz der Finsternis“, 1899)
Nach seinem klaustrophobischen Spielfilm-Debüt „
Calvaire - Tortur des Wahnsinns“ (2004) hat sich der Belgier Fabrice Du Welz für sein Zweitwerk „Vinyan“ mit einer internationalen Crew nach Thailand aufgemacht, um vor exotischer Kulisse die Geschichte eines englischen Paares zu erzählen, das sich im burmesischen Dschungel auf die Suche nach seinem Sohn macht und dabei in eine fremde, mysteriöse Welt eindringt.
Der Regisseur wagt sich hier ähnlich tief in das von Joseph Conrad beschriebene „Herz der Finsternis“ hervor, wie dies bereits Francis Ford Coppola mit seinem Kriegs-Opus „Apocalypse Now“ (1979) vor ihm gelungen ist, und hat dabei eine atemberaubend-monströse Meisterleistung vollbracht, die die Grenzen des Horror-Genres sprengt und ihre Fühler außerdem in die Drama-, Abenteuer- und Arthouse-Richtung ausstreckt.
„When someone dies a bad death, their spirit becomes confused and angry. They become Vinyan.”
Janet (Emmanuelle Béart, „
Mission: Impossible“) und Paul Belhmer (Rufus Sewell, „Dark City“, „
The Illusionist”) leiden noch immer unter dem Verlust ihres einzigen Sohnes Joshua (Borhan Du Welz), der vor einem halben Jahr im Tsunami umgekommen zu sein scheint.
Während einer Benefiz-Veranstaltung wird ein Video aus Burma vorgeführt, welches eine Gruppe völlig verwahrloster Kinder zeigt. Janet glaubt fest daran, auf dieser Aufzeichnung Joshua ausfindig gemacht zu haben, und überzeugt ihren Ehemann infolge eines emotionalen Ausbruchs davon, die Hoffnung noch nicht aufzugeben und alles daran zu setzen, ihren Sohn zurückzuholen.
Um ihr Ziel zu erreichen, nehmen die Beiden die Hilfe des zwielichtigen Thaksin Gao (Petch Osathanugrah) an, der sie für immer mehr Geld immer tiefer in das dunkle Ungewisse führt.
Paul ist sich inzwischen sicher, dass Janet einem Phantom hinterherjagt und sich geistig nur weiter von der Realität entfernt.
Der letzte Versuch, seine Frau zur Vernunft zu bringen, kommt zu spät…
„Vinyan“ in Worte zu fassen ist wahrlich kein leichtes Unterfangen – schließlich beruht ein Großteil der Wirkung des Films auf Bildern, die man selbst sehen muss, um die Sog-artige Atmosphäre von Du Welz´ Werk spüren zu können. Die Aufnahmen von Kameramann Benoît Debie („The Card Player“, „
Irreversible“) sind in diesem Zusammenhang einfach nur fantastisch, und brauchen sich qualitativ nicht hinter denen vom bereits genannten Meisterwerk Coppolas zu verstecken.
Die Umgebung erhält einen fremdartigen, faszinierend-bedrohlichen Charakter, der als Vorbote des Unheils dient, lange bevor sich dieses auf der Leinwand personifiziert. Gerade in der heutigen Zeit ist so eine subtile Herangehensweise in Genre-Produktionen selten zu beobachten, da es inzwischen ja eher gang und gäbe ist, die Zuschauer in möglichst hoher Frequenz mit oberflächlichen Schock-Effekten abzuspeisen ohne auch nur im Geringsten an dem Aufbauen einer Stimmung interessiert zu sein.
Schon allein der Vorspann ist genial umgesetzt, wenn hinter übergroßen Lettern die Auswirkungen des Tsunami von Unterwasser gezeigt werden: Gedämpfte Schreie, dann einige wenige Luftblasen in der Dunkelheit; Silhouetten von Körpern dringen in die Tiefe ein und verwandeln die vorherige Ruhe in ein tödliches Spiel von Farben und Formen.
Zunächst suchen Janet und Paul in Bangkok nach einer Person, die sie sicher nach Burma bringen und ihnen beim Aufspüren von Joshua helfen kann. Obwohl sich „Vinyan“ hier noch in der Zivilisation abspielt, gelingt es Debie, die hektische thailändische Metropole so einzufangen, dass sich der Zuschauer zusammen mit den Protagonisten darin nahezu verloren vorkommt – ein Gefühl, das im Verlauf des Werkes eine immer größere Bedeutung bekommt. Je weiter sich das Ehepaar in die Wildnis vorwagt, desto mehr verliert es jeglichen Kontakt zu der Welt, die es kennt, und schließlich zu sich selbst.
Das, was Fabrice Du Welz in der zweiten Hälfte des Films auf der Leinwand präsentiert, entspricht schon längst nicht mehr dem Land, das man aus dem Urlaub oder von Postkarten her kennt – es ist eine düstere und unheimliche Umgebung, die in ihrer Darstellung aus einem Höllen-ähnlichen Szenario eines schlimmen Fiebertraums stammen könnte.
Von Musik wird das Geschehen dabei nur sehr selten untermalt – an wenigen Stellen bauen sich die Gitarrenwände des französischen Komponisten François Eudes („
High Tension“, „
Inside“) bedrohlich auf, nur um dann plötzlich zu verstimmen und eine noch beklemmendere Stille zu hinterlassen. Aber nicht nur in dieser Hinsicht versteht es der Regisseur hier nahezu perfekt, Akzente zu setzen:
Während sein Vorgänger „
Calvaire - Tortur des Wahnsinns“ manchmal schon fast
zu zurückhaltend inszeniert gewesen ist, weiss Du Welz inzwischen offensichtlich sehr genau, wann ein bestimmtes Spannungs-Element besonders effektiv funktioniert, und wann er sich wieder völlig auf das Zusammenspiel der Figuren und Bilder konzentrieren kann, ohne sein Publikum auch nur in geringster Weise zu langweilen.
Dabei sollte aber trotzdem angefügt werden, dass sich das Werk natürlich nicht gerade als Partystreifen für Freunde Action-geladener Splattergranaten eignet – gegen Ende gibt es zwar eine wirklich brutale Szene zu sehen, die aber richtigen
Gore-Hounds nur ein leichtes Gähnen entlocken dürfte.
„Vinyan“ ist echter, anspruchsvoller Horror – ohne Kompromisse oder Anflüge von Humor!
Als Identifikationsfiguren in dem filmischen Albtraum dienen lediglich Janet und Paul; genau wie sie werden die Zuschauer in das Geschehen gezogen und verlieren sich in einer mysteriösen Welt. Die übrigen Charaktere sprechen teilweise gar kein Englisch, oder wirken alles andere als vertrauenswürdig.
Aber auch das Paar entzweit sich im Verlauf der Suche voneinander. Paul, der innerlich nie ganz Janets Überzeugung teilen konnte, muss miterleben, wie seine Frau selbst in wildfremden Waisenkindern ihren Sohn erkennt und langsam den Kontakt zum irdischen Dasein verliert.
Die Französin Emmanuelle Béart verkörpert ihre schwierige Rolle als Janet sehr glaubwürdig und ruft dabei manchmal Erinnerungen an Isabelle Adjanis fantastische Performance in „
Possession“ (1981) hervor, während Rufus Sewell als Paul am Ende die einzige Figur bleibt, zu der man nach Janets Abdriften einen echten Bezug hat – denn er ist der einzige Charakter, der in der Realität verwurzelt bleibt, obwohl selbst er gegen persönliche Dämonen kämpft und ebenso in der Finsternis unterzugehen droht.
Inhaltlich lassen sich in dem Werk starke Parallelen zu Nicolas Roegs Klassiker „
Wenn die Gondeln Trauer tragen“ (1973) ausmachen – schließlich steht bei beiden Filmen ein Ehepaar im Mittelpunkt, das in einer fremdartigen Umgebung den Tod eines Kindes zu verarbeiten versucht -, aber auch von dem eher unbekannten spanischen Schocker „¿Quién puede matar a un niño?“ („
Ein Kind zu töten...“, 1976) von Narciso Ibáñez Serrador ist der Regisseur nach eigenen Aussagen sehr angetan gewesen, weshalb er eigentlich sogar ein Remake davon inszenieren wollte.
Das Drehbuch zu „Vinyan“ stammt aus der Feder von Du Welz selbst, der aber einige Ideen und Dialoge zusammen mit David Greig und dem „
Donkey Punch“-Autoren/Regisseur Oliver Blackburn ausgearbeitet hat.
Auf die mythologische Bedeutung des Titels wird nur einmal während einer beeindruckend inszenierten Szene eingegangen, in welcher Menschen Feuer-Lampen aufsteigen lassen, damit die verwirrten und wütenden Geister der auf grauenvolle Weise Verstorbenen (die
Vinyan genannt werden) ihren Weg in den Himmel finden.
Was das verstörende Ende des Films in diesem Kontext genau bedeutet, wird nicht explizit erklärt, sondern letztendlich der Interpretation der Zuschauer überlassen.
Fest steht aber:
Sowohl Horror-Liebhaber, die nicht nur rollende Köpfe sehen wollen, als auch nervenstarke Freunde des Kunst-Kinos kommen an dieser zutiefst beunruhigenden Reise in die Hölle nicht vorbei – ein echtes Meisterwerk!