Ein junges Mädchen von 14 Jahren bewegt sich schleppenden Schrittes zur Kasse einer Londoner Apotheke – sie ist bleich im Gesicht, abgemagert, voll gepumpt mit Heroin und trägt ein blutdurchtränktes Kleid. In russischem Dialekt bittet sie den verblüfften Apotheker um Hilfe, bevor sie vollends auf den Boden kollabiert. Kurze Zeit später verstirbt sie im Krankenhaus und wird zugleich auch selbst Mutter eines kern-gesunden Mädchens.
Erst der Tod eines Mädchens bedingte die Geburt eines anderen und legt dabei die Grundlage für die Handlung – sinngemäß könnte man auch sagen, der Tod des Mädchens gibt den Anstoß für die Entwicklungen - des Films "
Tödliche Versprechen". Leben und Tod liegen hier nahe beisammen, wenn sie nicht sogar einander bedingen.
Das ist der eine Handlungsstrang, den uns David Cronenberg und Drehbuchautor Stephen Knight (der auch das Drehbuch lieferte für den Thriller "
Kleine schmutzige Tricks" mit Audrey Tautou) vorgeben. Diesem geht voraus eine grausame Exekution in einem Friseursalon – eine Tat, die vom Mafia-Codex abgesegnet war, ein Mord zur Vergeltung der Ehrenbefleckung eines ranghohen Mafiamitglieds.
Beide Ereignisse haben einen Urheber – den hektisch-ziellosen, unbekümmerten und dem Alkohol und Hurerei frönenden Lebemann Kirill (Vincent Cassel), einen für seine Stellung verantwortungslosen und naiven Abkömmling des russischen Mafia-Clans
"Vory v Zakone" (übersetzt "Diebe im Gesetz"). Aufgrund früherer Kapitalverbrechen in der Heimat vom FSB (dem früheren KGB) verfolgt, transferierte der Mafia-Pate Semyon (Armin Müller-Stahl) kurzum den ganzen Clan, samt Familie in die Hauptstadt Englands und eröffnete hier ein Russisches Restaurant, um nach außen hin die Fassade legitimer Beschäftigung zu wahren. Von Zeit zu Zeit jedoch betreibt der Kopf des Clans quasi aus dem Hinterhof seines Restaurants natürlich auch weiterhin illegalen Handel mit Alkohol, Drogen und zur Prostitution bestimmten Frauenhandel.
Wie ein Puzzlespiel setzt nun Cronenberg diese verschiedenen Existenzen und Ereignisse in seinem Plot zusammen. Das junge Mädchen, das von Semyon und Kirill in die Prostitution gezwungen wurde, verstirbt und hinterlässt als Erbe ein elternloses Kind, aber auch ein in Russisch geschriebenes Tagebuch. Dieser Lebens- bzw. Leidensbegleiter fällt, fast schon wie durch Schicksal, gerade Anna zu (gespielt von Naomi Watts, die bereits in "
The Ring" und "
Stay" ihre schauspielerischen Fähigkeiten als fundierte Charakterdarstellerin unter Beweis stellen durfte). Anna ist halb Russin und halb Engländerin und empfindet, neben ihrem Mitleid für das elende Schicksal der Neugeborenen, auch auf Grund ihrer Abstammung eine Art Verantwortung, herauszufinden, wie das junge Mädchen in diese tödlichen Umstände hinein geraten ist. Annas nur bröckchenweise vorhandene Russischkenntnisse und die sture Abfuhr des Onkels, das Tagebuch zu übersetzen, führt sie geradewegs in die Hände des finsteren, undurchsichtigen, nach außen jedoch freundlich-väterlichen Semyon, dessen Restaurant in den Aufzeichnungen der Verstorbenen öfters erwähnt wird.
Anna bittet ihn, für sie das Tagebuch zu übersetzen, ohne zu wissen dass gerade dieses Buch nun mehr zu den letzten Beweisen zählt, die Semyon mit dem verstorbenen Mädchen in Verbindung setzen können. Anna bringt also ohne zu wissen sich selbst und ihre Familie in Lebensgefahr. Wahrscheinlich ist es dieser Umstand, dass ihr Leben am seidenen Faden hängt, und die Unbeholfenheit, ihr ausgefallenes Motorrad zu reparieren, auch der Grund warum Semyons Chauffeur und Kirills Verbündeter Nikolai (Viggo Mortensen) sich für Anna zu interessieren beginnt.
Nikolai, der nach den ersten Auftritten nun plötzlich aus dem Schatten der Statistenrolle ins Rampenlicht der Ereignisse tritt, ist ebenso kaltblutig und undurchsichtig wie die Menschen für die er arbeitet. Seine Motive und Ziele in Semyons Clan kennt in Wahrheit niemand, schon gar nicht der naive Kirill, der in Nikolai den Beschützer und besten Freund sieht. Und so kann auch der Zuschauer nur mit der Fortdauer des Films langsam erahnen, wonach Nikolai wirklich trachtet.
Die Handlung geht ihrem Höhepunkt entgegen als zum einen die Brüder des im Salon ermordeten Clanmitglieds in London auftauchen und jeden am Mord Beteiligten grausam niederstechen, und zum anderen Semyons Geduld ebenso wie seine väterlich-fürsorgliche Maske auf Annas Weigerung, ihm das Tagebuch zu überlassen, mit der Zeit sich vollends auflöst und er zu drastischen Mitteln greift…
David Cronenberg hat einmal in einem Interview gesagt, er verwende sehr viel Energie in seinen Filmen darauf, dass diese auch nach dem Schluss noch lange nachwirken und den Zuschauer dazu bewegen, sich den Film noch einmal anzuschauen.
Dies ist ihm mit "Tödliche Verprechen" (wiedermal erweist sich der Originaltitel "Eastern Promises" als passender) definitiv gelungen. Dafür lassen sich mehrere Gründe anführen.
Zunächst einmal ist der Film hochkarätig besetzt, bis auf eine Ausnahme überragend und realistisch gespielt und professionell inszeniert. Die Schauspieler Viggo Mortensen (unvergessen seit seiner Aragorn-Interpretaion in "
Herr der Ringe"), Armin Müller-Stahl (die Reinkarnation Marlon Brandos als der russische "
Pate"), Naomi Watts (zuletzt durchaus überzeugend als das Opfer
King Kongs) liefern eine äußerst realistische, kontemplative Leistung und tragen damit noch eine Spur mehr zu dem hohen Authentizitätsgrad des Films bei. Weiters ist die Wahl der Locations in London sehr passend zum Charakter des Films gefallen. Statt Wahrzeichen wie die London Bridge, den Big Ben oder das berühmte Parlament ins Bild zu zwängen (wie es z.B. in zahlreichen James Bond Filmen der Fall ist), wählt Cronenberg für die entscheidenden Szenen seines Films enge, menschenverlassene Gassen, einen verrumpelten Restaurant-Innenhof, sowie in Dunkelheit getauchte enge Zimmer.
Manch anderer Filmemacher hätte sich hier vielmehr bequeme, saubere Orte gewählt wie Krankenhausgänge und Stationszimmer (wie so oft in Hollywoodfilmen zu sehen) oder irgendwelche großen Lagerhallen, die die Machenschaften im Untergrund zeigen, um die Schauspieler perfekt auszulichten und ihnen möglichst viel Platz und Komfort zu geben. Doch Cronenberg entschied sich für den Realismus, was der Film mit jeder Einstellung vermittelt.
Der seit "
Dead Ringers" schon zwanzig Jahre lang mit Cronenberg zusammen arbeitende Kameramann
Peter Suschitzky hat wieder einmal großartige Bilder eingefangen, die stark auf die Gefühlslage des Zuschauers wirken, und, unterstreicht von
Howard Shores Klavierklängen, Melancholie und Tristheit in lagsam sich aufbauenden Szenen übertragen, um dann in perfektem Übergang den Zuschauer mit der Dynamik und Rohheit der plötzlichen Gewaltausbrüche zu konfrontieren. Bezeichnend für die explodierende Gewalt, die in diesem letzten Cronenbergfilm eher rar gesät ist, ist die Anfangsszene, in der ein scheinbar routinierter Friseurbesuch zu einem hinterhältigen Meuchelmord mit durchgeschnittener Kehle ausartet, eine hässliche Racheaktion auf einem Londoner Friedhof und der wahrscheinlich virtuoseste und in seiner Drastik und inszenatorischen Perfektion in der ganzen Filmgeschichte wohl noch nie so in Szene gesetzte Sauna-Messerkampf.
Wie schon zu Beginn der Rezension deutlich wird, ist die Handlung von "Tödliche Versprechen" mit viel Ambition ausgearbeitet und eröffnet sich – wie in allen Filmen Cronenbergs – mit ihrer ganzen Komplexität erst zum Schluss. Dieser ist wie der Anfang sehr prägnant und unaufgesetzt gelungen, so dass es Cronenberg auch diesmal schafft lediglich einen Einblick in das Leben seiner Figuren zu geben, deren Existenzen vor und nach dem Film weiter verlaufen. Dieses Bemühen um eine authentische Stichprobe aus dem Leben der Protagonisten trägt nicht unerheblich noch zu dem hohen Realismusgrad des Films bei und ist auch ein bewährtes Markenzeichen von
David Lynch (z.B. in "
Lost Highway" oder "
Blue Velvet").
Diese In-Sich-Geschlossenheit, dabei doch nur das Zeigen eines Fragments aus dem Leben der Charaktere bewirkt, dass man als Zuschauer das Gefühl bekommt, dass die vorgestellten Personen auch außerhalb des Films weiterleben (natürlich nur die, die die Handlung überlebt haben) und kann dabei Vermutungen anstellen, wie deren fiktives Leben sich wohl weiter entwickeln könnte. Das ist eines der Geheimnisse von Cronenberg, das ihn mit Lynch verbindet.
Seit seinem Debütfilm "
Shivers" trägt Cronenberg den Beinamen "
Regisseur des neuen Fleisches". Dieser Titel begründet sich aufgrund seiner drastischen Inszenierungsweise physischer Veränderung (besonders eindrucksvoll in Filmen wie "
Die Fliege" und "
Videodrome" zu sehen) und seiner Verkoppelung von Körper und Seele, die in eine surreale Odyssee der Sinne mündet. Diesen Beinamen müsste Cronenberg ablegen, wenn er seine Motive nicht konsequent weiterführen würde. Und während in seiner vorletzten Arbeit "
A History of Violence" (ebenfalls zusammen mit Viggo Mortensen in der Hauptrolle) die Veränderung der Persönlichkeit durch physische Eingriffe nur metaphorisch zu lesen war (Mortensens Ausbildung zum Auftragskiller der Mafia hat bleibende Eindrücke hinterlassen, die auch durch die Aufnahme einer neuen Existenz nicht weggewischt werden können und im entscheidenden Plotpoint des Films schon ganz früh ausbrechen), ist es in "Tödliche Versprechen" diesmal wie gewohnt sehr plakativ und zentral.
Mortensens Charakter Nikolai ist eine Art Aushängeschild der traditionellen Tätowierung im Kreise der russischen Mafia. Diese verlangt von den Anwärtern um die Aufnahme in den Clan keinen schriftlichen Lebenslauf, der die verbrecherischen Aktivitäten dokumentiert, sondern vielmehr eine zeichenhafte Protokollierung auf der Haut. Das Einbrennen der Tatoos hinterlässt im Verlauf einen nicht reparablen Rückstand auf Körper und folglich auch der Seele und zeigt jedem aufmerksamen Beobachter:
"Einmal ein Dieb, immer ein Dieb!"
Ein unleugbarer Wermutstropfen in diesem sonst meisterlich inszenierten Film ist das Spiel von Vincent Cassel als aufmüpfiger Halbstarker, der seine Rolle mit Heißblut und Anarchie füllt. Cassel (in Filmen wie "
La Haine" und "
Irreversible" sonst passend besetzt) kommt daher wie ein aufgeschniegelter Kampfhahn, mischt sich überall ein und hat dennoch keine Ahnung. So wichtig die Rolle für den Plot ist, so sehr führt Cassel diese ad absurdum. Während es Mueller-Stahl und Mortensen unter der Leitung Cronenbergs gelingt, dass es einem bei der kaltblütigen, menschenverachtenden Geschäftsabwicklung der Mafiosi eiskalt den Rücken herunterläuft, unterwandert Cassel mit seiner schrägen Art die Reputation seines Clans und sabotiert geradezu die Beklemmung der dicht gestalteten Atmosphäre.
Dennoch kann dieser Umstand den äußerst positiven Gesamteindruck nicht trüben und es lässt sich abschließend statuieren, dass das Mafia-Drama "Tödliche Versprechen" mit seinem komplexen Plot, der brillanten Charakterzeichnung, großartig fotografierten Bildern und subtiler Mileustudie eindeutig zu den Höhepunkten des Jahres 2007 zu zählen ist.