Ohren dienen dem Menschen beim Hören, Augen benötigt dieser, um zu sehen – beide Sinneswahrnehmungen beansprucht das Regieduo Hélène Cattet und Bruno Forzani bei seinem Spielfilm-Debüt „Amer“, um die Zuschauer in die Gefühlswelt der Protagonistin Ana (dargestellt in verschiedenen Altersstufen von Cassandra Foret, Charlotte Eugene-Guibbaud und Marie Bos) förmlich
eintauchen zu lassen.
Inszenatorisch ist das Werk von dem italienischen
Giallo-Kino der Siebziger Jahre, welches Mario Bava 1964 mit „
Blutige Seide“ geprägt hat, inspiriert worden und atmet mit jedem seiner atemberaubenden Bilder sowie dem markanten Soundtrack den Geist jener Filme.
So werden zum Beispiel bereits die einleitenden
Split-Screen-Aufnahmen von Bruno Nicolais musikalischem Titelstück zu Sergio Martinos „
Der Schwanz des Skorpions“ (1971) untermalt und auch im weiteren Verlauf kommen Kenner des Genres an allen Ecken und Enden in den Genuss audiovisueller Zitate.
Allerdings sei bereits an dieser Stelle erwähnt, dass sich „Amer“, dessen Titel übersetzt
verbittert bedeutet, inhaltlich an keine
Giallo-Formel hält…sofern man hier überhaupt von einer eindeutigen
Story sprechen kann.
Im Grunde ist dieses filmische Kunstwerk ein Experiment – eine in drei Ereignisse aufgeteilte Charakterstudie, die narrativ den Ausdruck der Bilder und Geräusche anstelle von verbalen Erklärungen gewählt hat.
Ein Blick zählt darin mehr als tausend Worte.
Es folgen Spoiler!
Cattet und Forzani zeigen Ana zu Beginn als junges Mädchen, welches mit ihren Eltern und ihrem Großvater in einer riesigen Villa lebt.
Neben den Mitgliedern der Familie existiert noch eine Bedienstete, die als eine unheimliche Gestalt mit schwarzem Schleier wahrgenommen und von der Mutter auch als „Hexe“ bezeichnet wird.
Dieser Abschnitt im Leben Anas wird von einem Gefühl der
Angst und der
Schuld geprägt und im späteren Verlauf durch den Einsatz von Primärfarben, wie sie Dario Argento bereits in seinen Arbeiten „
Suspiria“ (1977) oder „
Inferno“ (1980) verwendet hat, wie ein surreales Erlebnis dargestellt.
Während ihre Eltern ständig hinter verschlossenen Türen streiten, sucht sie irgendwann das Schlafzimmer ihres scheinbar frisch verstorbenen Großvaters auf.
Ana entreißt dessen starren Händen mit Gewalt eine Taschenuhr und bricht dabei einen der Finger.
Nun ereignen sich erschreckende Vorfälle.
Augen beobachten das Mädchen durch Schlüssellöcher, Hände greifen unter Schränken nach ihr und auch der Tod des bestohlenen Großvaters scheint in ihren Augen nicht mehr gewiss.
Im folgenden Teil überspringen die Regisseure einige Jahre in Anas Entwicklung und schildern eine eigentlich alltägliche Situation:
Ein Mädchen im Pubertätsalter geht mit ihrer Mutter spazieren.
Zu Stelvio Ciprianis „La polizia chiede aiuto“ (aus Massimo Dallamanos „
Der Tod trägt schwarzes Leder“, 1974) wirkt auf die Zuschauer neben der Melodie erneut eine Komposition von sinnlichen Bildern ein.
Die Sonne scheint und der warme Wind lüftet die Kleider und umgarnt sanft die freien Körperanteile der beiden weiblichen Charaktere.
Ein Mann fährt langsam vorbei – und wieder sprechen hier Blicke eine deutliche Sprache.
Im Dorf angekommen, will die Mutter zunächst einige Zeit ungestört sein.
Ana läuft deshalb dem Ball eines spielenden Jungen hinterher und erregt daraufhin die Aufmerksamkeit einer Gruppe von Bikern.
Zuerst schüchtern, präsentiert sie sich den gierigen Männern schließlich wie ein Starlett auf einer Bühne – ihr sexuelles Bewusstsein hat eingesetzt.
Ihr kurzer Auftritt wird von der eintreffenden Mutter heftig mit einer Backpfeife quittiert. Eine Erziehungsmaßnahme…oder purer Neid?
Verwirrung,
Enttäuschung und
Wut sind die Gefühle, die man am Ende dieses Abschnitts mit dem Mädchen teilt.
Jahre später – als erwachsene Frau – kehrt Ana letztlich zu dem verlassenen und heruntergekommenen Anwesen ihrer Eltern zurück.
Auf der Taxifahrt zum Haus fühlt sie sich unwohl und erregt, ihr feuchter Körper klebt an den Polstern. In den Blicken des Fahrers spiegelt sich sexuelle Begierde.
Nach ihrer Ankunft bemerkt die Frau später, dass sie nicht allein in dem Bauwerk zu sein scheint:
Eine Gestalt mit schwarzen Handschuhen macht Jagd auf sie und die Personen, die ihr zu nahe kommen.
Die Antwort auf das Rätsel des unbekannten Angreifers liegt tief in ihrer eigenen Vergangenheit…
Wenn der Rezensent in diesem Jahr nun einen Film nennen müsste, wegen welchem er hingebungsvoll vor der Leinwand auf die Knie sinken würde – es wäre trotz starker Konkurrenz diese absolut einmalige, sinnliche Erfahrung.
„Amer“ ist ein Werk, das man als Zuschauer im Kino erleben muss, um dessen visuelle Wucht völlig auskosten zu können - die HD-Mattscheibe kann man an dieser Stelle leider nicht als vollwertigen Ersatz bezeichnen.
Wie es die beiden jungen
Giallo-Liebhaber Cattet und Forzani geschafft haben, dem italienischen Gruselthriller ein derart starkes Denkmal zu setzen und gleichzeitig aus diesem Stil eine völlig andere Art von Film zu basteln, ist einfach nur phänomenal.
Wenn man Dario Argento, Lucio Fulci und Sergio Martino mit Roman Polanski und David Lynch in einen Raum gesperrt hätte, wäre dabei vermutlich, neben tätlichen Angriffen der Beteiligten untereinander, nur ein Haufen cineastischen Haferbreis herausgekommen.
Unter den Fittichen der beiden Newcomer ist aus der Verschmelzung der genannten Vorbilder ein homogenes Gesamtwerk entstanden, welchem man zu keiner Sekunde anmerkt, dass irgendein Element vielleicht verkrampft zwischen die Geschichte gequetscht worden wäre.
Der Wechsel von Farben und Stilen, Emotionen und Bewusstseinszuständen funktioniert tadellos.
Allerdings ist „Amer“, wie man aus den vorherigen Zeilen bereits herauslesen konnte, nicht unbedingt die beste Wahl für den spannungsgeladenen Thrillerabend.
Die gesamte Akzentuierung der Ereignisse beruht hier auf den intensiven Aufnahmen von Kameramann Manuel Dacosse, die zu einem erheblichen Teil aus extremen
Close-Ups bestehen, sowie der eleganten, sorgfältigen Montage des Materials.
Wer sich als Zuschauer nicht einem solchen Sturm aus puren Eindrücken hingeben kann, sollte einen sehr großen Bogen um den Film machen.
Letztlich durchlebt man darin zusammen mit Ana drei Schlüsselsituationen in ihrem Leben, die in einer, dem Titel entsprechend,
bitteren Konsequenz münden.
Wirklich neu ist dieser Inhalt nun nicht gerade – spontan fällt einem als Vergleich zum Beispiel Polanskis „Ekel“ (1965) ein, welcher ebenfalls eine junge Frau portraitiert, die verängstigt in einem als feindlich empfundenen Umfeld lebt.
Dennoch holen hier Cattet und Forzani ein Stück weiter aus, als der erwähnte Film:
Sie ziehen die Zuschauer mitten in die Entwicklung ihrer Protagonistin hinein, indem sie ein jeweils passendes visuelles Pendant zu ihrer wechselnden Gefühlswahrnehmung finden.
Der Rezensent könnte jetzt ewig so weiterschreiben - allerdings ist es recht müßig, über einen wahrhaftigen Bilderrausch zu berichten, den man als Zuschauer ohnehin
sehen und
erleben muss.
„Amer“ ist Filmkunst in Perfektion und obendrein ein Freudenfest für
Giallo-Fans.