Ist ein guter Künstler wirklich dazu in der Lage, sich in seinen Werken (sei es in Form eines Films, Buches o. ä.) vollständig von persönlichen Bezügen zu lösen- oder bleibt bei aller erzählerischen Distanz nicht doch stets etwas Autobiografisches hängen, so sehr man auch bemüht ist, dies zu vermeiden? Federico Fellini (“La dolce vita”, “Amarcord”) jedenfalls hält man vor, die Hauptfigur seines 1963 gedrehten Meisterwerks “8½” - ein hadernder Regisseur, der sich in einer tiefen Existenz- und Schaffenskrise befindet - sei dessen alter ego gewesen. Auch wenn Fellini selbst diese Behauptung vehement von sich wies, so lassen sich doch zumindest im Entstehungsprozess zu seinem achteinhalb-ten Film (daher der mysteriös klingende Titel!) deutliche Parallelen zum von Marcello Mastroianni dargestellten Charakter des Guido Anselmi erkennen, welcher einfach nicht mehr weiß, was er inszenieren soll und seine verzweifelte Filmcrew beständig darüber im Unklaren lässt, worum es in seinem Streifen eigentlich genau gehen wird. Eine Phase, die Fellini in ähnlicher Form ebenso durchlebt haben muss - dennoch sind die einzelnen Vorkommnisse in “8½” laut Regisseur rein fiktionaler Natur.
Mastroianni spielt also diesen Anselmi, der immerfort von seinem Produzenten und sonstigen Mitwirkenden des Films bedrängt wird. Er solle ihnen doch endlich reinen Wein einschenken und ein klares Konzept vorlegen, sagen sie ihm. Noch nicht einmal einen vagen Ideena
nsatz habe er ihnen nahe gebracht. Tatsächlich ist das Einzige, was vom Drehplan bekannt ist, dass eine riesige Attrappe einer Raketen- Abschussbasis irgendwo im Freien aufgebaut wurde- zu welchem Zweck, das bleibt jedoch im Dunkeln. Guido jedenfalls tangiert der Druck, der von außen so kommt, herzlich wenig bis überhaupt nicht. Den Regisseur mittleren Alters plagen erhebliche berufliche wie auch persönliche Selbstzweifel, die ihm jegliche künstlerische Inspiration versagen. Obwohl er seit zwanzig Jahren mit seiner Frau Luisa (Anouk Aimée) verheiratet ist, ist er nicht wirklich glücklich in dieser Ehe. Guido fühlt sich unfähig und von allem und jedem gelangweilt und flüchtet sich immer wieder in traumähnliche Fantasien, in denen er seinen personifizierten Wünschen begegnet. Der einzige Ausweg aus dieser krisenhaften Situation scheint darin zu bestehen, dass er den Leuten einfach die Wahrheit berichtet- also warum sollte sein zukünftiger Film nicht einfach von ihm selbst handeln?- von einem Mann, der den Glauben an sich selbst verloren hat und der mehr oder weniger von seiner inneren Leere zerfressen ist…
“Was ich machen wollte, kam mir ganz einfach vor: einen Film, der es jedem einzelnen gestatten sollte, endlich zu begraben, was wir alle an Abgestorbenem in uns tragen. Ich bin indessen selber der erste, der nicht das Herz hat, irgend etwas zu begraben.”
(Federico Fellini)
Vielleicht sollte man an dieser Stelle zunächst einmal die Diskussionen darüber, wie stark sich Fellini beim Dreh des Films tatsächlich von persönlichen Erfahrungen hat leiten lassen, einfach begraben. Konkret nachweisen lässt sich ohnehin nichts- und im Grunde genommen sind derartige Spekulationen über mögliche autobiografische Inhalte auch unwichtig. “Otto e mezzo”, “8½”, rekonstruiert die Geschichte eines Künstlers, der in einer schwierigen Lebensphase steckt und sich fragt, was das Künstler- Sein für ihn überhaupt bedeutet. Dieser Guido Anselmi droht an seinem permanenten Erfolgs- und Leistungsdruck geradezu zu ersticken- ein symptomatisches Empfinden, das sich bereits in der symbolischen Eröffnungsszene äußert. Guido macht eine Erholungskur in einem Thermalbad, wo er sich auch auf seinen Film vorbereitet (eine ganze Reihe von Schauspielerinnen und Schauspielern sind dort schon eingetroffen!)- doch wirklich helfen kann ihm auch diese Kur nicht. Eigentlich befindet sich Guido in einem ständigen, krankhaften Wechselspiel zwischen Sein und Schein, zwischen Traum und Realität, wobei ihm seine Fantastereien die Möglichkeit bieten, seinen inneren Dämonen zumindest für kurze Augenblicke zu entfliehen. In diese surrealistische Traumwelt, die Kameramann Gianni di Venanzo grandios eingefangen hat, projiziert er all seine Ängste, quälende Erinnerungen an seine Kindheit und tiefste Obsessionen in anschaulichen Metaphern. Immer wieder fantasiert er von einer “Traumfrau”, Claudia (Claudia Cardinale,
Spiel mir das Lied vom Tod), die Reinheit in Person, welche ihm vorhält, er habe die wahre Liebe niemals kennen gelernt. In einer anderen Sequenz schart Guido einen großen Harem von Frauen um sich- alles Frauen, die in seinem Leben in irgend einer Weise eine Rolle gespielt haben, zumeist aber eine sexuelle, keine emotionale- Frauen, die er dominiert, denen er vorschreibt, in den ersten Stock des Hauses umzuziehen, wenn sie ein gewisses Alter überschritten haben.
Diese zutiefst neurotischen Verhaltensweisen Guidos sind aber nicht nur Ausdruck einer von der Suche nach Glück und Erlösung getriebenen Seele eines Mannes, der sich all den Anforderungen, die an ihn gestellt werden, nicht mehr gewachsen sieht, im entfernteren Sinne sind sie auch ein unabdingbares Produkt der strengen katholischen Erziehung, mit der Guido aufgewachsen ist, und deren zwanghaft- konservativen Ideologien er immer bis zu einem bestimmten Grad unterlag. Marcello Mastroianni, der die Rolle des desillusionierten Regisseurs übrigens fabelhaft spielt, hält mit seiner ständig um ihr eigenes Wesen kreisenden Figur des Guido Anselmi, die in der Macht der Phantasie ein Heilmittel gefunden zu haben glaubt, der gesamten Branche den Spiegel vor, dies aber, ohne selbige auf eine boshafte Art entlarven zu wollen. Mastroianni balanciert seinen Charakter mit leichten Humor und dem notwendigen ironischen Unterton aus, der sich auch in der sehr verspielten Inszenierung Fellinis widerspiegelt. Man muss dazu berücksichtigen, dass “8½” in einer Ära des kulturellen Umbruchs entstand und somit die Krise einer ganzen Generation von Intellektuellen repräsentiert, die im Fahrwasser der zeitgenössischen gesellschaftlichen und politischen Querelen versuchten, ihrer eigenen Identität gewahr zu werden.
Für Federico Fellini, der mit “8½” nahtlos an den Erfolg seiner poetischen Liebesgeschichte “La Strada- Das Lied der Straße” anknüpfen konnte, mit der ihm 1954 der internationale Durchbruch gelungen war, bedeutete das vorliegende Werk gleichzeitig auch eine Abkehr von der nationalen Bewegung des Neorealismus, die sich insbesondere in der Nachkriegszeit auf das Ziel versteift hatte, ein authentisches Bild des von sozialer Ungerechtigkeit beherrschten Italiens zu zeichnen und den harten Alltag des schlichten Bauern- und Arbeitervolks darzustellen, vor allem vor dem Hintergrund der letzten Ausläufer des Faschismus der Mussolini- Herrschaft. Im Gegensatz zu einigen seiner Kollegen wie Pasolini, Visconti oder de Sica gelang Fellini der Eintritt in eine neue Schaffensperiode recht schnell. “8½” ist praktisch beispielhaft für dieses “neue italienische Kino”- eine Art Antwort auf die französische nouvelle vague- welches das ewiggestrige Streben nach der “nackten Wahrheit” ad acta legte und sich einer moderneren Film-Ästhetik widmete, die das Kino nun nicht mehr ausschließlich als moralische Bühne nutzte.
"Otto e mezzo" liest sich als Selbsttherapie des Regisseurs Fellini und ist zugleich eine Blaupause für postmoderne Film-im-Film-Inszenierungen. Der Film wurde mit zwei Oscars (“Bester fremdsprachiger Film” und “Beste Kostüme”) ausgezeichnet und gehört dank seines besonderen inhaltlichen Anspruchs, der auf mehreren Ebenen zugleich funktioniert, der surreal-magischen Ausstrahlung und seiner Leichtfüßigkeit noch immer zu den unbedingt sehenswerten Klassikern des europäischen Kinos. Nicht zu vergessen ist die famose Darstellerriege, angeführt von Marcello Mastroianni, Anouk Aimée und 60er- “Kino- Queen” Claudia Cardinale.