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Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)

Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)

Ein Film von Alejandro Gonzalez Iñárritu


DIE BÜHNE DES LEBENS


Der Mexikaner Alejandro González Iñárritu ("Babel" [2006]) ist schon ein seltsamer Vogel: Obwohl seit nunmehr vierzehn Jahre im Filmgeschäft tätig, hat der Regisseur und Drehbuchautor erst vier Filme gedreht, die laut einhelliger Kritikermeinung mit zunehmender Bestimmtheit das eigenbrötlerische Schaffen des Filmschaffenden bestätigten, welcher sich immer wieder mit exzentrischer Freude und vehement den vorherrschenden, mainstreamigen Charakteristika des Erzählkinos versagt. So machte sich Iñárritu trotz übersichtlicher Filmographie relativ schnell in der Branche einen Namen, der bei jedem neuen Projekt vor allem eines verheißt: unkonventionell-ambitionierte Seherfahrungen, die mutig gegen den filmisch immer redundanter werdenden Einheitsbrei-Fluss der jüngsten Kinogeschichte anschwimmen.


Ein Trend, der sich erfreulicherweise auch mit dem vorliegenden, jüngst für beachtliche neun Oscars nominierten Geniestreich fortsetzt: "BIRDMAN ODER (DIE UNVERHOFFTE MACHT DER AHNUNGSLOSIGKEIT)" verquirlt kurzerhand diverse Versatzstücke der Genres Satire, Tragikomödie und Psychodrama zu einem überraschend einheitlich wirkenden, nichtsdestotrotz wilden Mix aus großartiger Schauspielkunst und eindrucksvoll-kreativen Impressionen, der das Publikum sicherlich fordert, aber nicht überfordert. Ein ätzend-liebevoller B
lick auf die schöne kaputte Welt eines auf der Theaterbühne des Lebens gestrandeten Schauspielers und vor allem ein herausragendes Filmerlebnis, wie man es in dieser vollendeten Form schon lange nicht mehr im Kino gesehen hat.


Viel über den Inhalt zu wissen, ist im Falle von "BIRDMAN" dem Grunde nach gleichzusetzen mit einem Geburtstagskind, welches seine Geschenke schon Wochen vorher im Kleiderschrank der Eltern ausfindig gemacht hat: Die echte Freude am Ehrentag ist zwar da, macht den ausgebliebenen Überraschungseffekt aber nicht wett. Wir beschränken uns bei der folgenden Inhaltsangabe daher auch auf nur einen einzigen Satz: Ein strauchelnder Ex-Superheldendarsteller (Michael Keaton) sieht die späte Chance, mit einem Broadwaystück auf seine alten Tage noch einmal einen Erfolg zu feiern, gerät dabei aber nicht nur mit Kritikern und exzentrischen Schauspielern, sondern auch mit seinem Alter Ego Birdman in Konflikt, das sich immer mehr in den Vordergrund drängt.


Damit will es der Autor dann auch bewenden lassen und im weiteren Verlauf weder besondere Filmszenen dezidiert beschreiben noch Wendungen und Überraschungsmomente vorwegnehmen. Kein leichtes Unterfangen, wo es im Grunde doch jede Sekunde des Films verdient hätte, einer genaueren Betrachtung unterzogen zu werden. Aber der Mensch wächst ja bekanntermaßen an seinen Aufgaben, womit wir auch schon wieder beim eigentlichen Thema wären: "BIRDMAN" ist die tragisch-komische Geschichte über eine gescheiterte Existenz und deren Wunsch, es sich und der Welt noch einmal zu beweisen, koste es, was es wolle. Dass unser Protagonist hierbei an seine Grenzen stößt und sogar droht, am aufgebauten Druck wortwörtlich zu zerbrechen, steht symbolisch für das im Film aufgezeigte Business, in dem du gestern noch einen Namen hattest, während heute bereits kein Hahn mehr nach dir kräht. Was zählt, sind allein die nackten Zahlen, die über Erfolg und Niederlage entscheiden. Die Performance eines Künstlers verlagert sich so zunehmend vom Drehort aufs Box Office-Parkett, welches derart glatt ist, dass eine Bruchlandung schneller droht, als einem wohl lieb ist. Parallelen zur Realität sind hier durchaus gewollt ...


... denn "BIRDMAN" evoziert diesen Realitätsbezug auch geradezu mit der Wahl seines kongenialen Hauptdarstellers, weil die Entscheidung, eine Geschichte über einen auf eine zweite Chance hoffenden, ehemaligen Superheldendarsteller kurzerhand mit einem auf eine zweite Chance hoffenden, ehemaligen Superheldendarsteller zu besetzen, ein so einfacher wie genialer Schachzug ist. Wie der Ex-Batman-Darsteller Michael Keaton hier am Rande des Nervenzusammenbruchs chargiert, flucht und in Selbstmitleid zerfließt, nur um kurz darauf wie ein längst erloschen geglaubter Vulkan plötzlich ohne Vorwarnung zu explodieren, dabei aber sein Gesicht bewahrt, ist eine schauspielerische Glanzleistung, die trotz des surrealen Sujets des Films niemals over the top erscheint. Vielmehr verbleibt sie dank des nuanciert ausbalancierten und hundertprozentig auf den Punkt geschriebenen Drehbuchs eigentlich immer im satirisch-überspitzten Rahmen des Genres. Wenn dieser doch einmal gesprengt wird, dann allenfalls durch die kreativ-blühende Phantasie, welche die Macher walten lassen, um das verquaste Kopfkino des gefallenen Birdman-Darstellers Riggan Thompson für den Zuschauer greif- und erfahrbar zu machen. Ein wilder Ritt ...


... der auch deshalb nicht zur unzugänglichen Tour de Force für den Rezipienten gerät, weil sich Regisseur und Co-Drehbuchautor Iñárritu den frischgebackenen Oscarpreisträger Emmanuel Lubezki ("Gravity" [2013]) als Kameramann geangelt hat: Denn dessen sich ständig in Bewegung befindende Kamera, die scheinbar mühelos durch Fenstergitter und lange Theaterkorridore schwebt, während sie immer dicht am Geschehen klebt, lässt 99% des Films wie eine einzige Plansequenz ohne sichtbaren Schnitt wirken und verstärkt somit trotz hohen Erzähltempos zunehmend den Eindruck, gerade einem zweistündigen Theaterstück über das Leben beizuwohnen, in dem Grenzen nur im Kopf bestehen. Die Kamera sorgt für den nötigen Fluss und tritt zumeist dann aufs Bremspedal, wenn das Geschehen droht, die Überhand zu gewinnen. Dem Zuschauer wird somit stets Gelegenheit zum Luftholen geboten, um im Folgenden der bestimmt nicht einfachen, jedoch beiweitem nicht unzugänglichen Geschichte noch besser und aufmerksamer folgen zu können. "BIRDMAN" ist das Bühnenstück unter den Blockbustern in diesem Frühjahr: modern in der Ausführung (und damit sicherlich nicht nach jedermanns Geschmack), jedoch recht klassisch im Geiste, wenn am Ende wieder der Mensch um seinen Platz auf der Erde buhlt.


Ganz gleich ob nun als Verrisse liebende Kritikerin (herrlich fies: Lindsay Duncan), komplett in seiner Rolle aufgehender Schaupieler (ein unglaublicher Schalk auf der Bühne: Edward Norton), um Anerkennung kämpfende Aktrice (einfühlsam: Naomi Watts) oder dann doch als schwer umgängliche Tochter auf Entzug (kurz, aber einprägsam: Emma Stone): Alle diese Menschen suchen ihren Platz im Zuschauerraum des Lebens oder haben ihn, so glauben sie zumindest, bereits gefunden. Die Beantwortung der Frage, wer hier letztlich die Rolle des Platzanweisers einnimmt, ist irrelevant und zudem gänzlich obsolet, da der Film bei aller Kritik, obskurer Momente und denkwürdiger Monologe eine Aussage so überdeutlich auf der Leinwand drapiert, dass man am Ende gar nicht anders kann, als die leicht zynisch präsentierte Wahrheit abzunicken: In einer Welt, in der man es schon als Mann in Unterhose zur kurzlebigen Social-Media-Berühmtheit bringt, können jedem Menschen Flügel wachsen. Ganz gleich, was andere auch von einem halten mögen.


Fazit: Der vielfach oscarnominierte "BIRDMAN ODER (DIE UNVERHOFFTE MACHT DER AHNUNGSLOSIGKEIT)" lehrt uns Folgendes: Als Mensch, der sich und der Welt beweisen will, dass er wichtig ist, hat man es im Leben durchaus schwer - als Individuum der im Film vorgeführten Gattung Kritiker im Übrigen auch. Doch in diesem Fall gibt es vonseiten des salbadernden Verfassers keinerlei Grund zur Beanstandung. Denn "BIRDMAN" ist Kino in Reinkultur: intelligent, kreativ und als Gesamtkomposition schlichtweg großartig! Chapeau.


Eine Rezension von Stefan Rackow
(08. April 2015)
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Daten zum Film
Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) USA 2014
(Birdman: or (The Unexpected Virtue of Ignorance))
Regie Alejandro Gonzalez Iñárritu Drehbuch Alejandro G. Iñárritu & Nicolás Giacobone & Alexander Dinelaris Jr. & Armando Bo
Produktion New Regency Pictures / M Productions / Le Gribsi / TSG Entertainment / Worldview Entertainment Kamera Emmanuel Lubezki
Darsteller Michael Keaton, Edward Norton, Naomi Watts, Andrea Riseborough, Emma Stone, Lindsay Duncan, Zach Galifianakis, Amy Ryan, u.a.
Länge 119 Minuten FSK ab 12 Jahren
http://www.birdmanthemovie.com/
Filmmusik Antonio Sanchez (drum score)
Nominiert für 9 Oscars 2015: Best Motion Picture of the Year / Best Performance by an Actor in a Leading Role (Michael Keaton) / Best Performance by an Actor in a Supporting Role (Edward Norton) / Best Performance by an Actress in a Supporting Role (Emma Stone) / Best Achievement in Directing / Best Writing, Screenplay Written Directly for the Screen / Best Achievement in Cinematography / Best Achievement in Sound Mixing / Best Achievement in Sound Editing
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