Nein, mit Larry Clarks Teenagerdrama KIDS hat dieser Film nichts zu tun - aber das dachten wir uns ja schon. Vielleicht sieht der deutsche Vertrieb den Film ja auch als Fortführung von KIDS - IN DEN STRASSEN NEW YORKS, der freilich auch nichts mit Clark zu tun hat, aber auch das ist nur Marketinggeklingel: KIDS II - IN DEN STRASSEN BROOKLYNS heißt im Original DOWNTOWN: A STREET TALE und ist ein völlig eigenständiger Film.
Die Geschichte ist als Ensemblestruktur präsentiert und dreht sich um eine Gruppe von Jugendlichen und jungen Menschen, die in New York obdachlos sind und in einem baufälligen Abrißgebäude hausen. Da ist der 27-jährige Angelo, genannt "Kick", der als Stricher Geld verdient; ein HIV-positiver Junkie namens Hunter; eine Stripperin aus Ungarn; ein mittelloser Musiker, der nach Los Angeles möchte, und seine 17-jährige Freundin, die ohne sein Wissen im vierten Monat schwanger ist - und eine Reihe anderer Figuren, die den Querschnitt durch die Probleme der Drogen, Prostitution, Krankheiten, Armut, Hoffnungslosigkeit und des generellen Überlebenskampfes vervollständigen. Zusammengehalten werden die einzelnen Stränge nicht nur durch die heruntergekommene Unterkunft, die Angelo als väterliche Figur den anderen zur Verfügung stellt, sondern auch durch die Sozialarbeiterin Aimée, die in einem Sozialzentrum arbeitet und sich um die Jugendl
ichen kümmert.
Aimée ist die stärkste Figur des Films, und Geneviève Bujold, die Aimee spielt, ist gleichermaßen sein Highlight. Bujold ist tough, hat eine starke Präsenz und ist absolut glaubwürdig als Sozialarbeiterin: Ihre Aimée sorgt sich um ihre Klienten, nimmt ihre Probleme ernst, und läßt sich aber gleichzeitig keinerlei Unsinn auftischen. Gleich zu Beginn stellt sie Angelo zur Rede, der wieder von der Polizei verhaftet wurde: Warum lernt er nicht dazu, will sie wissen. "Ich habe ein geringes Selbstwertgefühl", druckst Angelo nach kurzer Zeit herum. "Geringes Selbstwertgefühl - woher hast du das? Hast du dir das extra geholt? Hast du dich freiwillig dafür gemeldet?", beißt Aimée zurück. "Meine Kindheit", sagt Angelo, und Aimée wirft den Ball gekonnt zurück: "Dann werd' erwachsen". In einer späteren Szene, wo Aimée vom Tod eines Klienten erfährt, sehen wir, daß ihr die Nöte der Jugendlichen auch emotional zu schaffen machen, und Bujold spielt den Moment exakt richtig: Ein ganz kurzer Ausbruch, bei dem ihr die Tränen kommen, gefolgt von einem schnellen Ruck, der ihre Kontrolle wieder herstellt. Als Sozialarbeiter muß man mit dem Herz dabei sein, aber wer alles zu sehr an sich heranläßt und keine Distanz wahrt, geht gnadenlos unter. Aimée weiß das, und deswegen kann sie ihre Arbeit auch gut machen.
Schade, daß die restlichen Figuren nicht so genau und interessant wie Aimée gezeichnet wurden. Regisseur Rafal Zielinski und Drehbuchautor Joey Dedio (der auch produziert hat und Angelo spielt) sind in ihren Intentionen absolut aufrichtig: Keiner der Problemfälle wird vorgeführt oder seiner Würde beraubt; der Film begegnet seinen Protagonisten immer auf Augenhöhe. Nur sind die Probleme zu generell gezeichnet, zu allumfassend zusammengesammelt, und die Charaktere dabei zu flach geschrieben, als daß sie wirklich greifen können. Träume, Ziele und Hoffnungen der Jugendlichen bleiben ebenso wie ihre Hintergrundgeschichten nur angerissen - stattdessen wird ihrem ganzen Abstieg viel Raum gegeben. Weniger Figuren und ein stärkerer Wille, bei den Handlungssträngen zu bleiben und nicht immer zum nächsten zu schneiden, wenn gerade etwas Interessantes oder Aufschlußreiches passieren könnte, hätten dem Film sehr gut getan. "Bin ich schön? So wie Julia Roberts in Pretty Woman?", will eine junge Prostituierte wissen, aber bevor der Film mit den Implikationen dieser Frage - Vorbildfunktionen, Schönheitsideale, die naive Unschuld der Frage gegenüber dem, womit sich die Fragestellerin ihr Brot verdienen muß - beschäftigen könnte, bewegen wir uns schon wieder zur nächsten Figur weiter.
Die Inszenierung ist dabei durchaus zweischneidig. Einerseits läßt Zielinski (der ganz früher Sexklamotten wie SCREWBALLS drehte und schon mit FUN - MORDSSPASS einen Film über perspektivenlose Jugendliche inszenierte) den Darstellern und Figuren Raum, zielt nicht auf ständige Sensationsgier, und gönnt dem Prozedere einen natürlichen Rhythmus. Seine Schauspielführung ist ein weiteres Plus, auch wenn nicht jeder in seinem Ensemble gleichwertig überzeugende Arbeit abliefert: Einige der Darsteller bleiben fahrig und unfokussiert, und es zeugt von Zielinskis sicherem Händchen, daß er diese Unebenheiten für die Energie und Glaubwürdigkeit seiner Geschichte nutzen kann. Auf der anderen Seite hat seine Inszenierung etwas Glättendes an sich: Irgendwie sehen die heruntergekommenen Gegenden eher aus wie stimmungsvolle Sets eines Rock'n'Roll-Videos, und wenn die Jugendlichen zu dicken Hip-Hop-Beats die Straße heruntergehen, passiert eine ungewollte Romantisierung, die der Absicht des Films völlig entgegenläuft.
Es steckt ein guter Film in diesem Streifen, in dem ein 41-jähriger Schauspieler einen 27-jährigen Ex-Junkie spielt und ab der zweiten Hälfte beständig dramatische Musik und nachdenkliche Songs aufgefahren werden. "Religion is for people who are free to go to hell", erklärt ein im Rollstuhl sitzender Drogendealer in einer Szene. "Spirituality is for those who have already been there". Wenn nur der ganze Film so viel Einsicht bieten würde.