Als Anfang der sechziger Jahre Ken Keseys fantasievolle und gleichzeitig tief erschütternde Erzählung „Einer flog über das Kuckucksnest“ veröffentlicht wurde, stand ziemlich schnell fest, dass diese Geschichte rund um eine Gesellschaft, die Modernität und Fortschritt über Menschlichkeit und Toleranz stellt, als Drama verfilmt werden sollte. Aber erst 13 Jahre später sollte dies verwirklicht werden.
Nicht selten entstehen berechtigte Zweifel, dass ein auf einem Roman basierender Film auch nur ansatzweise den Status seiner literarischen Vorlage erreichen könnte, vor allem, wenn das Buch schon „von klassischer Qualität“ (Norddeutscher Rundfunk) und eine „dramatische, tief erschütternde Erzählung“ (Baseler Nachrichten) mit „Sprachwitz und Erfindungsgabe“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) ist. Was also ist von einem Film zu halten, der von dem Schöpfer der Story – Ken Kesey – nie gesehen wurde und auf der anderen Seite unzählige Preise einheimste?
Die Geschichte spielt in einer psychiatrischen Klinik, in der Insassen unterschiedlichster geistiger Verfassungen und Krankheiten wohnen und „behandelt“ werden. Es herrscht allgemeine Lethargie getragen von einem stets gleich ablaufenden Alltag, in dem die Patienten essen, schlafen, an Gruppensitzungen teilnehmen und Karten spielen. Diese Atmosphäre wird unterbrochen, als Randle Patrick McMurphy (Jack Nicholson) eintrifft. Der stets lachende, vor Energie strotzende Mann
Ende dreißig bildet den kompletten Gegensatz zu den bereits „einheimischen“ Insassen und erweckt den Anschein, in einer psychiatrischen Klinik fehl am Platz zu sein. Der Zuschauer erfährt, dass ihn dieser Eindruck nicht trügt, denn weder ist McMurphy geistig krank noch psychisch gestört, sondern hat sich selbst einweisen lassen, um einer Strafe im Arbeitslager zu entgehen. Bald aber muss er erfahren, dass das Leben in dieser Klinik kein Spaß ist und ihm hier Gefahren drohen, die weit über das körperliche Maß hinaus gehen.
Regisseur Miloš Forman verfilmte nicht nur ein Drama, sondern erschuf vielmehr eine Tragikkomödie. Die meiste Zeit des Films ist der Zuschauer durchaus in der Lage, herzhaft zu lachen und sich über die meist niedlichen „Macken“ der Patienten und die spontanen Aktionen McMurphys zu amüsieren. Deshalb fragt man sich zurecht, ob Miloš Forman wirklich die Aussage des Buches erkannt hat, da er den Zuschauern „Einer flog über das Kuckucksnest“ zunächst als relativ leichte Kost serviert. In Keseys Roman hingegen herrscht von der ersten Zeile an düstere, bedrückende Stimmung, die sich durch die gesamte Handlung zieht. Die Klinik wird als furchtbarer Ort dargestellt, an dem man vor vielen Dingen Angst haben muss. Dem Zuschauer wird dies – vor allem, wenn er das Buch nicht gelesen hat – kaum bewusst. Sogar die „Schwarzen Jungen“, Assistenten der Oberschwester Mildred Ratched (Louise Fletcher), sind im Film völlig harmlose Wesen, die mit den Patienten sogar Basketball spielen und sie nur dann und wann mit sanfter Gewalt zur Ruhe bringen. Im Buch hingegen sind sie höhnische, verachtende Monster, die die Patienten regelmäßig sexuell missbrauchen.
Warum lässt Miloš Forman diese Verharmlosung zu?
Eine mögliche Antwort könnte sein, dass er den Zuschauer nicht überfordern will. Eine weitere Lösung ist, dass Miloš Forman sein Publikum mit einer Holzhammermethode treffen will. So wandelt sich die leichte, amüsante Unterhaltung kurz vor Ende in eine totale Tragödie, sodass dem Zuschauer förmlich dass so eben noch freie Lachen im Halse stecken bleibt.
Sicher ist dies nicht der Weg, den das Buch geht, aber trotzdem eine gute, für einen Film wahrscheinlich sogar bessere Möglichkeit, die Dramatik der Story gekonnt auf einen Höhepunkt zu leiten und den Zuschauer mehrere sich kontrastierende Stimmungen durchleben zu lassen. Ihm wird erst nach einer Weile gestattet, unter die Oberfläche zu blicken und die Bedeutung dessen zu erkennen, was er doch schon seit über einer Stunde gesehen hat.
In „Einer flog über das Kuckucksnest“ gibt es nicht nur ein oder zwei, sondern gleich eine gesamte Mannschaft von überzeugenden Schauspielern, die man in den siebziger Jahren vielleicht kaum kannte und die dann später zu Weltstars wurden, allen voran Christopher Lloyd („Zurück in die Zukunft“), Danny DeVito („Der Rosenkrieg“, „Twins“) und Jack Nicholson („Shining“).
Allen voran ist da auch noch Lousie Fletcher, die die Rolle der eiskalten Oberschwester Miss Ratched spielt, die ihren Patienten nur Anteilnahme vorgaukelt, in Wahrheit aber emotionslos und berechnend bleibt. Für ihre Leistung wurde sie, genauso wie Jack Nicholson, mit einem Oscar ausgezeichnet und das waren nicht die einzigen Preise, die diesem tragikkomischen Meisterwerk Miloš Formans verliehen wurden.
Fakt ist, dass „Einer flog über das Kuckucksnest“ je einen Oscar für den besten Hauptdarsteller, die beste Hauptdarstellerin, das beste Buch nach einer literarischen Vorlage, den besten Regisseur und auch den für den besten Film erhielt. Genau so viele Golden Globes heimste er ein – und zwar in den gleichen Kategorien und dann auch noch sechs British Academy Awards. Was für eine Ehrung!
Und die ist gerechtfertigt und das nicht nur allein deswegen, weil dieser drei Millionen US-Dollar teure Film über 100 Millionen Dollar wieder einspielte. Wenngleich er doch so anders aufgebaut ist als seine Romanvorlage, schafft er es dennoch, die Kurve zu kriegen und vom Komischen ins Tragische umzuschwenken. Und hinterher fragt man sich, warum man eigentlich daran gezweifelt hat, dass dieser Film gut werden würde. Denn immerhin musste er nur halb so gut sein wie das Buch, um als Meisterwerk bezeichnet zu werden.
Zusatz: (Patient Harding)
„Diese Welt … gehört den Starken […]!
Das Ritual unserer Gesellschaft gründet sich darauf, dass die Starken stärker werden, indem sie die Schwachen verschlingen. […]
Wir müssen lernen, das als das Naturgesetz dieser Welt zu akzeptieren.
Die Hasen akzeptieren ihre Rolle im Ritual und anerkennen den Wolf als den Stärkeren. Zur Abwehr wird der Hase schlau und ängstlich und ausweichend, und er gräbt Löcher und versteckt sich, wenn der Wolf in der Nähe ist. Und er überlebt, er macht weiter. Er weiß, wo er hingehört.“
(Ken Kesey, „Einer flog über das Kuckucksnest“)