Was macht man, wenn man nachts mitten im Wald ein gähnend schwarzes Loch im Boden vorfindet, aus welchem merkwürdige Geräusche kommen?
Die Forstaufsicht verständigen? Die Polizei? Oder das Militär?
Mit seinem bereits reichlich erfolgreichen Debüt „Chronicle“ serviert uns der bei dessen Fertigstellung gerade erst 26-jährige Regisseur Josh Trank allerdings ein spektakuläres Fantasy-Abenteuer.
Und deshalb alarmieren seine heranwachsenden Protagonisten Andrew (Dane DeHaan), Matt (Alex Russell) und Steve (Michael B. Jordan) nach ihrer Entdeckung auch nicht die Behörden, sondern hüpfen wacker in das aufregende Unbekannte.
Das, worauf sie dort unten stoßen, stellt sich als übermenschliche Macht heraus, die auf die Freunde überspringt und so ihr Leben für immer verändern soll.
„Mitleid mit den Tieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, daß man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Tiere grausam ist, könne kein guter Mensch sein“, hat einst Arthur Schopenhauer in seiner Mitleidsethik geschlussfolgert.
Der deutsche Philosoph wird nun nicht nur namentlich zu Beginn dieser
Found Footage-Ausgabe einer potentiellen Superhelden-Entstehungsgeschichte erwähnt; seine Gedanken zum Menschen und dessen allmächtigem Willen lassen sich später im Werk durchaus wiederfinden.
In „Chronicle“ ist es Andrew, der sich infolge seiner physischen Transformation auch mit einem moralischen Konflikt konfrontiert sieht.
Er erfährt im Verlauf der Handlung, wie es sich anfühlt, selbst einmal wie ein Gott oder eine höhere Spezies auf seine früheren Peiniger herabzublicken.
Und was es bedeutet, die Kraft in seinen Händen zu halten, diese ganz einfach, wie Insekten, zerquetschen zu können.
Eine vorbeikrabbelnde Spinne wird nur zum beiläufigen Opfer seiner zerstörerischen Fähigkeiten.
Andrew ist kein grundauf schlechter Mensch, er ist ein Resultat grausamer, äußerer Umstände.
Lassen wir Schopenhauer nun beiseite und kehren zurück zur Welt der Filme:
Aus großer Kraft wächst große Verantwortung, das wissen wir nicht zuletzt von
Spider-Man. Und aus großem Leid entsteht großer Zorn, das kennen wir aus
Star Wars.
Andrews Mutter ist totkrank, sein Vater ein ihn prügelnder Alkoholiker. Er selbst ein unbeliebter Außenseiter an seiner Schule.
Das Klischeebild einer schweren Kindheit wird auch von Trank und seinem Drehbuchautor Max Landis, Sohn von „
American Werewolf“-Schöpfer John Landis, ohne besondere Nuancen bedient.
Aber es funktioniert zumindest erneut im Rahmen dieser Geschichte, auch wenn sich das Familiendrama dicht an der Oberfläche abspielt und das Schicksal der Figuren relativ früh determiniert scheint.
Was wäre, wenn sich einem plötzlich die ungeahnte Möglichkeit bieten würde, sich wie ein Phönix aus der Asche zu erheben?
Wer würde diese Möglichkeit schon ausschlagen?
Die eigentliche Frage lautet wohl: Auf welche Weise würde man sich dann im Leben zurückmelden?
Andrew, sein auf der High School populärer Cousin Matt und dessen Buddy Steve kosten ihre neuen Kräfte zunächst in Form harmloser Streiche aus.
Allein mit der Macht ihrer Gedanken Autos von Supermarkt-Kunden umparken, fliegenderweise Football spielen – Dinge, die man halt tun würde, wenn man sie denn könnte.
Der anfängliche Schabernack erreicht eine äußerst düstere Dimension, als Andrew einen nervenden Autofahrer von der Straße befördert und diesen dabei schwer verletzt.
Das war kein besonders „cooler“ Einfall, wie ihm auch seine schockierten Freunde mit Nachdruck versichern.
„Ich bin ein Spitzenprädator!“, schreit der völlig größenwahnsinnige Andrew Matt während eines apokalyptischen Finales, das Erinnerungen an Katsuhiro Ohtomos Anime-Meilenstein „Akira“ (1988) wachruft, entgegen.
Davor sehen wir, wie der Teenager den Boden unter seinen Füßen verliert und letztlich zum unkontrollierten Monster mutiert.
Gelingt es Matt noch, seinen Freund vor dem persönlichen Untergang zu bewahren?
Josh Tranks Erstling entpuppt sich als insgesamt angenehm frischer Atemzug für das Genre-Kino - in einer Zeit, in der den Hollywood-Studios einfach nichts anderes einfällt, als alte Stoffe zu rebooten, zu kreuzen oder schlicht fortzusetzen.
Er verknüpft Erzählform und Inhalt auf interessante Weise:
In der ersten Szene beobachten wir, wie Andrew seine neu erworbene Kamera, durch die wir den Großteil der Handlung verfolgen, vor seiner verschlossenen Zimmertür positioniert.
Das Gerät wird zum Zeugen der väterlichen Gewalt, zu einem frei steuerbaren, verlängerten Auge des Protagonisten.
Was erkennt Andrew wohl, wenn er sich selbst darin sieht? Einen innerlich verängstigten Jungen mit Superkräften oder etwas Finsteres, das schon lange in ihm lauert und nur darauf wartet, endlich entfesselt zu werden?
Der Film lebt seine amüsante „Was wäre wenn...“-Idee über weite Strecken hemmungslos aus, lässt aber seine tragische Note dennoch stets deutlich mitschwingen.
Man sollte hier wahrscheinlich besser kein sonniges Happy End für sämtliche Figuren erwarten. Dafür stürzt der Spass später in einen allzu tiefen Abgrund.
So sehr „Chronicle“ ein Dokument von Andrews zerrissener Psyche ist, so blass gezeichnet bleiben leider seine zwei Gefährten.
Steves Charakter beschränkt sich weitgehend darauf, Sprüche zu klopfen und den Rezensenten die „Dude!“-Strichliste führen zu lassen (vielleicht sprechen US-Teenager ja auch einfach so), während Andrews Stütze Matt eine kleine Liebesgeschichte mit einer Mitschülerin spendiert bekommt, aber ansonsten ebenfalls ohne wirklichen Hintergrund auskommen muss.
Niemand von ihnen gerät je sichtbar in Kontakt mit der familiären Situation ihres Freundes. Vielleicht ist das auch der Grund, warum sich dieser so allein seinem Schicksal ausgeliefert fühlt. Durch die Wolken fliegen und herumalbern ist bestimmt ganz nett, es schützt aber wohl nicht davor, mental verletzt zu werden.
Als Matt und Steve die sich anbahnende Katastrophe spüren, ist es bereits zu spät.
„Chronicle“ ist mit Sicherheit kein perfekter Film:
Der Anfang zieht sich etwas. Die Balance zwischen dem einfachen
Coming of Age-Drama und dem effektgeladenen Event-Kino ist nicht gänzlich geglückt. Es fehlt an manchen Ecken und Enden an Tiefgang, für den man ruhig auf einige der telekinetischen Einlagen hätte verzichten können.
Restlos überzeugt hat das Werk mich vielleicht nicht; trotzdem hat es mich fasziniert mitgenommen, auf seine abenteuerliche wie gefährliche Reise zur Schwelle zum Übermenschlichen.
Tranks Arbeit über außergewöhnlich begabte Individuen kriecht mit ihren Wurzeln im tristen Alltag zumindest tiefer unter meine Haut als Matthew Vaughns missratene
„X-Men“-Auflage.
„I killed all the rainbows and the species“, wabert die einzige Textzeile des
M.8.3-Songs „This Bright Flash“ während des Abspanns durch die Boxen.
Ein neuer Soundtrack zur dunklen Seite der Macht.