Anmerkung des Rezensenten: Dieser Text enthält Spoiler!
Mit „Enter The Void“ hat der französische Skandalregisseur Gaspar Noé nun endlich sein
Opus magnum vollendet – ein Werk, das allein durch seinen waghalsigen Inszenierungsstil wohl als eines der innovativsten cineastischen Experimente der ausklingenden Dekade in Erinnerung bleiben wird.
Void bedeutet übersetzt
Leere, aber „Void“ lautet in dem Film auch der Name eines kleinen, dreckigen Clubs, in welchem der junge Protagonist Oscar seinen Tod findet.
Oscar (Nathaniel Brown) lebt seit einiger Zeit zusammen mit seiner Schwester Linda (Paz de la Huerta, „The Limits of Control“) in der schillernden japanischen Metropole Tokyo.
Während er mit Drogen wie Ecstasy oder DMT dealt, arbeitet sie als Stripperin in einem Nachtclub.
Das Leben der Geschwister, die eine besondere Liebesbeziehung verbindet und die sich nach dem grausamen Unfalltod ihrer Eltern eigentlich hoffnungsvoll eine neue, zweisame Zukunft errichten wollten, gerät in dem kriminellen und abgründigen Moloch aus den Fugen und endet schließlich in der Erschießung Oscars durch die Polizei.
In der Erzählstruktur folgt das Werk, welches die Zuschauer zu Beginn durch Oscars Augen und Gedanken wahrgenommen haben, schließlich in Anlehnung an das Tibetische Totenbuch (
Bardo Thödröl) dessen Prozess des Sterbens über die drei Zwischenzustände (
Bardos) bis zur letztlichen Reinkarnation.
Nach dem Verlassen des Körpers entfernt sich langsam auch die filmische Blickperspektive und schweift in einer Distanz um das Ausmaß des Ereignisses.
Man beobachtet die Polizei beim Durchsuchen der Leiche und sieht anschließend die ehemaligen Freunde des Protagonisten, Alex (Cyril Roy) und Victor (Olly Alexander), die sich nun in Schuldgefühlen wälzen oder sich ebenfalls auf der Flucht vor dem Gesetz befinden.
Auch das Leid Lindas nach der Nachricht vom Tod ihres Bruders wird subjektiv wahrgenommen, bevor man in dessen Vergangenheit abtaucht und Zeuge von angenehmen Erinnerungen wird und Erlebnisse, die einer sprichwörtlichen Hölle gleichen, quasi miterlebt.
Dabei verwenden Regisseur Noé und sein meisterhafter Kameramann Benoît Debie („
Vinyan“) immer wieder leuchtend anziehende, oft kreisförmige Gebilde (z.B. Lampen), in die der Betrachter eintaucht und die diesen, den im
Bardo Thödröl erwähnten
Mandalas entsprechend, unbewusst auf bestimmte Bereiche von Oscars Psyche führen.
Friedvolle Momente aus der Kindheit oder jüngeren Vergangenheit wechseln sich manchmal auch in einer einzigen Montage mit schockierenden Vorfällen ab.
So endet eine unbeschwerte Fahrt mit der Achterbahn urplötzlich im Scheinwerferlicht und ohrenbetäubenden Hupen eines entgegenkommenden LKWs – ein Bild aus dem Unfalltrauma der Geschwister.
Die von der subjektiven Kamera (man könnte durch den Einsatz gewisser Tricks schon fast von einer
emotionalen Kamera sprechen) ergründete Gegenwart verwandelt sich nach dem Sterben Oscars für sein Umfeld nun ebenfalls zu einem wahrhaftigen Albtraum:
Victor wird von seiner Familie verstoßen und versucht verzweifelt für einen von ihm begangenen Verrat Buße zu tun, Alex vegetiert als Obdachloser unter Brücken und Linda geht in ihrer Not eine ungewollte Beziehung ein und droht an dem Tod ihres geliebten Bruders zu zerbrechen.
Keine Frage, „Enter The Void“ ist ein bemerkenswerter und mutiger Film – ein Meisterwerk, das seinen Zuschauern allerdings nichts schenkt, sondern von ihnen eine aktive Auseinandersetzung mit dem Gesehenen einfordert.
Mit Worten lässt sich diese halluzinierende Erfahrung, dieser
Trip, dann auch nur schwerlich beschreiben.
Man muss ihn einfach selbst
erleben!
Obwohl Noé seinen brachialen und provokanten Vorgängern, dem nihilistischen Monolithen „
Menschenfeind“ (1998) und dem in umgekehrt chronologischer Reihenfolge erzählten Rachedrama „
Irreversible“ (2002), mit seiner aktuellen Arbeit eine spirituelle und in seinem letzten Akt, der sich mit dem hier als Sexakt aufgefassten Begriff „Liebe“ bezeichnen ließe, sogar seltsam schöne und inspirierende Reise hinzugefügt hat, erhellt auch diesmal kein echtes Sonnenbad das finstere Neon-Reich um Drogenabhängigkeit und Gewalt.
Auch „Enter The Void“ wird sein Publikum spalten - ganz sicher!
Allerdings diesmal vielleicht eher aufgrund formeller Entscheidungen, wie der extrem innovativen, aber gewöhnungsbedürftigen, Struktur, fremdartigen visuellen Tricks (beispielsweise eine Kameraeinstellung, von deren Entwicklung womöglich bald die Pornoindustrie profitieren wird) und nicht zuletzt der epischen Länge von über zweieinhalb Stunden.
Natürlich lässt es sich der streitbare Regisseur auch nicht nehmen, gewisse Grenzen zu überschreiten und Tabus zu brechen - dennoch stehen diese Elemente hier im Kontext des
Karmas, das man als Zuschauer zusammen mit Oscar durchlebt.
Zu Beginn des Films diskutiert Oscar mit Alex darüber, ob man denn durch das im Buch beschriebene, ständige Wiedergeborenwerden zwangsläufig auf ewig in dieser Welt gefangen sei.
Nach dem
Bardo Thödröl kann ein Mensch das
Nirwana nur erreichen, wenn er es schafft, den Kreislauf der Wiedergeburten durch das Durchschauen seiner
Ego-Projektionen zu durchbrechen.
Interessanterweise sind im Buddhismus die Begriffe
Nirwana, der im Gegensatz zu den weitläufigen Meinungen keinen
Himmel sondern eine
Erfahrung beschreibt, und
Leerheit (also wieder
void) miteinander verwandt.
Die letzten Worte, die groß auf eine ansonsten weiße Leinwand projiziert werden, lauten nicht, wie sonst üblich,
The End, sondern
The Void.
Also vielleicht ein direkter Hinweis darauf, dass Oscar nach den Höhen und Tiefen seiner Existenz doch noch irgendwie sein Ziel erreicht hat?
Ganz egal, mit welcher Meinung man nun den Kinosaal verlässt – eine
emotionale Leere wird man nach dem Besuch von „Enter The Void“ wohl kaum verspüren.
Möglicherweise offenbaren sich einige Details und zuerst nicht wahrgenommene Hinweise allerdings erst bei der zweiten Sichtung.
Als eine wichtige Inspirationsquelle bei der Entstehung hat für Gaspar Noé übrigens der Klassiker „
2001- Odyssee im Weltraum“ (1968) vom verstorbenen Leinwand-Visionär Stanley Kubrick hergehalten und man darf wohl mit Recht sagen, dass sich auch der in Argentinien geborene Franzose mit dieser ehrgeizigen und genialen Leistung einen Platz unter den aufregendsten Regisseuren seiner Zeit gesichert hat.
„Enter The Void“ ist bestimmt keine leichte Kost, aber er ist (ausdrücklich nur für volljährige Zuschauer!) wirklich jede seiner 162 Minuten Laufzeit mehr als wert.
Faszinierend und gleichzeitig erschütternd.