Es existieren verschiedene Theorien darüber, welchem Zweck das Träumen dient:
Nach Sigmund Freud soll dieser unterbewusste Vorgang dabei helfen,
Es-Impulse zu kontrollieren, während der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung darin die Kompensation von Einseitigkeiten und die daraus resultierende Ganzwerdung gesehen hat.
Generell werden während dieser Schlafaktivität Erlebnisse, Ängste und Probleme verarbeitet, welche einem im Wachzustand vielleicht sogar unbemerkt wie ein Gewicht auf den Schultern gelastet haben.
Nach der Arbeit an Musikvideos für unter anderem
UB40 oder
Frankie Goes To Hollywood hat sich der britische Regisseur Bernard Rose bei seinem Fantasyfilm „Paperhouse“, welcher auf dem Kinderbuch „Marianne Dreams“ von Catherine Storr basiert, ebenfalls dem Traumthema zugewandt.
Wobei das Werk natürlich keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Mechanismus beabsichtigt, sondern die Geschichte eines jungen Mädchens erzählt, welches sich buchstäblich ihre eigene Traumwelt erschafft.
Die elfjährige Anna (Charlotte Burke) lebt zusammen mit ihrer Mutter Kate (Glenne Headly) in einer kleinen Wohnung, während ihr Vater (Ben Cross), der ein Alkoholproblem hat, aufgrund seiner Arbeit meist im Ausland unterwegs ist.
Seit kurzer Zeit leidet sie unter Ohnmachtsanfällen und träumt in diesen Phasen stets von einer Landschaft, welche sie zuvor in der Schule auf ein Blatt Papier gemalt hat:
Auf einer weiten Wiese steht ein eigenartig schiefes Haus, an dessen oberem Fenster ein einsamer und traurig aussehender Junge sitzt.
Erst als Anna nach einem Versteckspiel vermisst und bewusstlos in einem Tunnel aufgefunden wird, stellt ihre Ärztin Dr. Nicols (Gemma Jones, „Die Teufel“) ein eigenartiges Fieber fest und verordnet ihr einige Tage Bettruhe.
In dieser Zeit arbeitet das Mädchen fleißig an ihrem Bild weiter und zeichnet eine Treppe in das erdachte Bauwerk, so dass sie schließlich während ihres nächsten Fiebertraums zu dem Bewohner, der sich ihr als Marc (Elliott Spiers) vorstellt, hinaufgelangen kann.
Wie sich dann herausstellt, sind Marcs Beine gelähmt.
Als sich ihr Zustand nicht bessert, schaut Dr. Nicols erneut nach Anna und erzählt ihr von einem ihrer Patienten, der ebenfalls Marc heisst und aufgrund seiner Muskelerkrankung nicht mehr laufen kann.
Anna versucht daraufhin, ihren neuen Freund mit weiteren Erneuerungen aufzuheitern und malt ihren grimmig blickenden Vater in das Bild, der diesen forttragen soll.
Durch die letzte Entscheidung verwandelt sich die idyllische Welt der Kinder schließlich in einen finsteren Albtraum…
Mit „Paperhouse“ hat Regisseur Rose ein wahrlich fantastisches Werk geschaffen, das nicht nur durch visuellen Einfallsreichtum und die authentischen Charaktere besticht, sondern außerdem mit einer Geschichte aufwartet, die das Publikum in ein Wechselbad der Gefühle taucht: Der Film ist zugleich schön und rührend als auch tragisch, schockierend und stellenweise unerwartet gruselig.
Ein Kinderfilm, der ganz sicher
nicht für Kinder geeignet ist.
Optisch lässt sich hier durchaus die Musikclip-Vergangenheit des Regisseurs anmerken.
Damit sind an dieser Stelle aber keineswegs schnelle Schnitte oder irgendwelche Lichteffekte gemeint.
Bernard Rose besitzt ein außerordentliches Gespür dafür, den oftmals surrealen Stil der Videos in die Traumszenen einzubauen und dadurch einen überzeugenden, manchmal an einen Tim Burton („Lottergeist Beetlejuice“) erinnernden, Kindertraum zu errichten.
Neben diesen beeindruckenden Bilderkompositionen muss allerdings auch dem gewaltigen Soundtrack von Stanley Myers und Hans Zimmer, der stets passend zwischen sanften und bedrohlich anschwellenden Synthesizer-Klängen pendelt, ein großer Anteil für das Entstehen der besonderen Atmosphäre zugerechnet werden.
Die Traumwelt dient hier als Spiegel für das emotionale Innenleben des Mädchens, für ihre Hoffnungen und Wünsche - aber auch für ihre tiefsten Ängste, wie der vor dem Verlust der Vaterfigur.
Durch ihre Krankheit setzen sich schließlich im Schlaf Elemente zu völlig wirren und beunruhigenden Szenarios zusammen.
Der zuerst als Retter ersehnte Vater verkommt nach einem zweiten Blick auf ein altes Familienfoto zum grausamen Monster und der strahlend blaue Himmel über der grünen Landschaft weicht einer pechschwarzen Nacht.
Während dieser Momente fletscht das Märchen gefährlich die Zähne und offenbart den Zuschauern seine Horrorwurzeln (vier Jahre später übernimmt Rose außerdem den Regieposten bei der brillanten Clive Barker-Verfilmung „Candymans Fluch“).
In „Paperhouse“ sind Traum und Realität zwei klar voneinander getrennte Zustände, die lediglich durch Annas Zeichnung miteinander verbunden werden.
Es wird hier nicht versucht, die Zuschauer durch permanente, unbemerkte Wechsel zu verwirren oder zu schockieren, wie dies beispielsweise in Wes Cravens „
Nightmare - Mörderische Träume“ (1984) der Fall ist.
Wer allerdings generell Probleme mit rational nicht völlig zu ergründenden Stoffen hat, wird vermutlich auch diesem zu Unrecht übersehenen Meisterwerk nicht viel abgewinnen können.
Roses Arbeit verlangt vom Publikum, Zusammenhänge nicht ständig logisch zu hinterfragen, sondern sich, wie die Heldin selbst, einfach in das fremde Reich fallen zu lassen.
Warum es den Kindern zum Beispiel möglich ist, ihre Träume zu teilen, wird nicht geklärt.
Vielleicht ist Marc ja nur eine Projektion dessen, was Anna von ihrer Ärztin über den Jungen erfahren hat. Oder vielleicht ist er auch eine Wunschvorstellung des cleveren Mädchens – von einem Freund, der nicht von ihr davonlaufen kann, wie dies einst ihr Vater getan hat.
Fazit: Der intelligente und mitreißende „Paperhouse“ ist ein echter Tipp für alle Liebhaber des fantastischen Genres.
Ein magisches Werk, das man sich nicht entgehen lassen sollte.