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Agora - Die Säulen  des Himmels

Agora - Die Säulen des Himmels

Ein Film von Alejandro Amenábar

Nach seinem oscargekrönten humanistischen Meisterwerk DAS MEER IN MIR gönnte sich Regisseur Alejandro Amenábar, längst nicht mehr nur bloßes Wunderkind des spanischen Kinos sondern eine fest etablierte Größe, ganze fünf Jahre Kreativpause um sich ein ganz neues Terrain zu erschließen: den Sandalenfilm. Jenes Genre, das in den 50er-Jahren seinen Siedepunkt erreichte, für prunkvolle Massenaufnahmen und überlebensgroße 70mm-Bilder steht und angeblich von Ridley Scott mit GLADIATOR reanimiert wurde. AGORA leistet im krassen Gegensatz dazu, was so viele andere Filmemacher in den antiken Wüstensand gesetzt haben: er spiegelt die Gegenwart ganz präzise in der Abbildung der Vergangenheit.

Der epochale Historienfilm ist angesiedelt im Ägypten des Jahres 391 nach Christus. Eine bewegte Zeit, fällt in diese Epoche doch eine fundamentale historische Umwälzung: Der Zerfall des römischen Reiches und der Aufstieg des Christentums zur Weltreligion. Die Philosophin Hypatia (Rachel Weisz) lehrt an einer platonischen Akademie in Alexandria Astronomie und ist an einem Gesamtverständnis der Welt interessiert. Ihr Wissensdurst verschlingt ihr Privatleben, doch in der vornehmlich männlich dominierten Gesellschaft hat sich die kluge Frau ihren Platz erkämpft. Hypatias Sklave Davus verehrt seine Herrin und lauscht ihren Unterrichtsstunden aufmerksamer als mancher Schüler, doch aufgrund des Standesunterschiedes darf er seiner Liebe keinen Ausdruck verleihen. Die s
chwelenden Konflikte zwischen Christen und Heiden entwickeln sich bald zu einem erbittert geführten Kampf um die Vorherrschaft in Alexandria, dem ein Großteil des erworbenen Wissens zum Opfer fällt als die Bibliothek zerstört wird. Jahre später hat sich eine christliche Regierung etabliert und Hypatia gerät in den Verdacht der Ketzerei...

AGORA ist massenkompatibles Blockbuster-Kino in sauberer Hochglanzästhetik geworden, doch anders als viele Kollegen wirft der vielleicht aufregendste spanische Filmemacher der Gegenwart bei steigendem Budget nicht Talent, eigene Handschrift und Liebe zum Detail über Bord. Vor einer relativ unverbrauchten und akkurat nachgezeichneten historischen Kulisse diskutiert der Film allgemeingültige Fragen, die gerade durch den religiös motivierten Terrorismus aktuellen Zündstoff erhalten. Auf schematische Vereinfachung sowie die übliche Pathetik verzichtet der Film glücklicherweise und behandelt den schwierigen Hintergrund mit der nötigen Ambivalenz. Religiöse Eiferer, Terrorismus und Heiliger Krieg sind Schlagwörter, die heute in erster Linie mit radikalen Islamisten in Verbindung gebracht werden - doch ist eine bloße Umdeutung keineswegs das Ziel des Films. Amenábar bezieht seinen kritischen Blick auf sämtliche Religionen und belässt es nicht bei einer klaren Zuordnung zwischen Tätern und Opfern sondern erzählt von opportunistischen Nutznießern, von gegenseitig angestachelten Aggressionen und von ungebändigter Vergeltungssucht, in jahrzehntelanger Unterdrückung angestaut. Wenn sich der Hass der Christen in der Zerstörung der Bibliothek und damit in der Vernichtung des erworbenen und mühsam archivierten Wissens entlädt, kündigt sich ein neues Zeitalter an, in dem das Christentum dem Fortschritt für viele Jahrhunderte ein Ende gesetzt hat: Das finstere Mittelalter. Aufgrund der Einordung in diesen historischen Wendepunkt sind die Christen hier allerdings (auch) noch Opfer und müssen die Demütigungen der hochmütigen Traditionalisten hinnehmen - doch ihre Zahl hat bereits die ihrer Unterdrücker überschritten.

Hinter all den mächtigen Kulissen und der strengen Ästhetik ist deutlich die Bescheidenheit erkennbar, eine klare Story, die sich aus hinlänglich bekannten Zutaten speist, möglichst unkompliziert zu erzählen, den Zuschauer aber dennoch ernst nimmt und nicht mit blödsinnigem Geschichtsrevisionismus für dumm verkauft. Künstlerische Freiheiten genehmigt sich AGORA zwar sicher an allen Ecken und Enden, er erschöpft sich allerdings nicht in pathetischen Phrasen oder dem simplen Hang zum Spektakel. Das dabei inszenatorisch manche Wendung eher steif und wenig spontan installiert scheint und der Film thematisch ein wenig überfrachtet ist, lässt sich zwar nicht leugnen, die fesselnde und spannende Geschichte fällt diesen marginalen Unstimmigkeiten nicht zum Opfer.

Neben seiner erstaunlich vielschichtigen und wertfreien Nachzeichnung verbürgter Tatsachen, die selbstverständlich auch einen starken interpretatorischen Charakter aufweist, ist AGORA an erster Stelle aber doch ein Film für die große Leinwand, ein perfekt durchkomponierter Bilderrausch und eine Tragödie großer Emotionen. Herausragend die Kameraführung, die kein falsches Heldentum im Schlachtengetümmel sucht sondern federleicht schwebend und immer dynamisch die nötige Distanz zum komplexen Geschehen hält, dabei aber auch nicht grausame Details vorenthält. Amenábars erste Zusammenarbeit mit dem exzellenten Xaxi Giménez (TRANSSIBERIAN, DARKNESS) erweist sich erneut als großer Gewinn, lässt der Regisseur seinen Kameramännern doch stets viel Raum zur Entfaltung, so dass die Filme immer stark von ihrer unterschiedlichen Kameraführung geprägt sind. Doch wer Amenábar kennt, der weiß, das sieser nicht an gefühlskaltem analytischem Kino interessiert ist sondern an lebendigen Figuren, greifbaren Konflikten und einer virtuosen Dramaturgie - wenn letztere auch deutlich konventioneller ausgefallen ist als in vorigen Werken. Was allerdings nicht zwangsläufig als Kritikpunkt gewertet werden muss, schließlich bedient sich Amenábar erstmals an einem Stoff für ein wirklich breites Publikum und ein solcher Film will anders erzählt werden als der fast schon experimentell radikale ÖFFNE DIE AUGEN. In AGORA soll kein Genre revolutioniert werden. Eher das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Rückblickend erinnert Amenábar an die wenigen großen Regisseure (Kubrick, Hawks und noch einige mehr) der Filmgeschichte, die mit dem Monumentalfilm überhaupt etwas anzufangen wussten. Eine nicht zu unterschätzende Leistung.

Eine Rezension von Marco Siedelmann
(06. März 2010)
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Daten zum Film
Agora - Die Säulen des Himmels Spanien 2009
(Agora)
Regie Alejandro Amenábar Drehbuch Alejandro Amenábar, Mateo Gil
Produktion Álvaro Augustín, Fernando Bovaira Kamera Xavi Giménez
Darsteller Rachel Weisz, Max Minghella, Oscar Isaac, Ashraf Barhom, Michael Lonsdale, Rupert Evans
Länge 126 Minuten FSK ab 12
Filmmusik Dario Marianelli
Kommentare zu dieser Kritik
NicerArt sagte am 17.03.2010 um 10:27 Uhr

Ich gehe mit der Rezension in den wesentlichen Punkten d´accord, aber ich mus einige Anmerkungen hinzuwürzen, damit das Verständnis für Amenabars Vorhaben noch deutlicher wird. Der Sandalenfilm wurde durch Kubrick und Hawks, aber auch durch Pasolini zum künstlerisch wertvollen Genre. Das gelang aber nur durch eine gut ausgesuchte Starbesetzung und gute Drehbuchautoren und in einigen Fällen mit den immer gezielten Blick auf den Geschichtsvoyeurismus des Megakinos. Bei Amenabar ist an der Regie, an der Kamera und im Schnitt nichts auszusetzen, lediglich das Drehbuch bringt zu wenig und ich finde im Gegensatz zu vielen anderen Kritikern, die musikalische Untermalung als nervend und schwülstig.
Das Grundthema des Plots, Freiheit, Wahrhaftigkeit, Massenpsychologie des Fanatismus, instrumentalisierte Verführbarkeit der Massen ohne irgendeine Ideologie oder Religion besonders herauszuheben ist gelungen, allein bezweifle ich es, dass gerade das Publikum in den großen Kinos das versteht und zu goutieren weiß. Denn zum einem gehören auch profunde Geschichtskenntnisse hinzu und vor allem die entscheidende Frage wie wir rückwärts gewandt wirklich verstehen, was das für eine Mamuttleistung es zu jenen Zeit war, die Physik, die Geometrie und die Astronomie im herrschenden Meinungsbild der Spätantike nachvollziehen zu können. Und es bedarf guter Kenntnisse der mediterranen Politik und Religionsvielfalt zu jenen Zeiten. ich habe bewusst den Film in einem Kinopolis gesehen, da waren zur besten Abendvorstellung in einem 300 Plätze Saal gerade mal 20 Zuschauer und aus den unentwegten Geplapper und Popkornvernichtungsgeräuschen hörte ich heraus, dass die Leute kaum etwas verstanden, sie wollten antike Action, Schwertkämpfe, schwülstige Erotik oder Heroentum sehen. Ich hörte heraus, dass sie genau das, was Amenabar vermitteln wollte, nicht verstanden haben.
Und da beißt sich die Katze in den Schwanz, da komme ich als ehemaliger kreativer Werbeprofi zu der Ansicht: Thema zwar außerordentlich ästhetisiert, aber die Zielgruppe nicht erreicht. Die Leute brauchen einen Mediator, sie brauchen eine Erklärung und ein Debatte über den Filmstoff. Wie in "Troja oder Gladiator" wollen die Leute die Banalität des Heldentums sehen und die schwarz-weiß Malerei Gut und Bös oder Edel und Verschlagen. Mit Brad Pitt und Russel Crowe lockt man die Leute ins Kino und dann ist es den Zuschauern gleichgültig wie beschissen der Stoff ist, den sie serviert bekommen. Rachel Weisz, Max Minghella und Michael Lonsdale in allen Ehren und Hochachtung vor der schauspielerischen Leistung aller Hauptakteure, aber die Masse, genau wie die Masse im Film dargestellt wurde, braucht andere Heroen. So wird der Film wahrscheinlich an den deutschen Kinokassen ein Flop. Ich will noch mal Spartacus erwähnen, den Kubrick als Auftragsarbeit gedreht hat, der aber ein Meilenstein des Sandalenfilms war, auch weil Dalton Trumbo das Drehbuch geschrieben hat. Und ich erinnere an "Heavens Gate", jenem exorbitanten Flop, den kaum jemand verstanden hat und deshalb zur Finanzkatastrophe wurde. Die Rollschuhballhausszene ist Filmgeschichte, aber keiner wollte sie sehen.
Alles in allem stehe ich hinter Amenabar und es muss versucht werden, eine erklärende Nachbearbeitung dieser Film mit dem Publikum zu erreichen, das, was wir immer versuchen.

Wolfgang Neisser
NicerArt sagte am 17.03.2010 um 10:32 Uhr

Ich gehe mit der Rezension in den wesentlichen Punkten d´accord, aber ich mus einige Anmerkungen hinzuwürzen, damit das Verständnis für Amenabars Vorhaben noch deutlicher wird. Der Sandalenfilm wurde durch Kubrick und Hawks, aber auch durch Pasolini zum künstlerisch wertvollen Genre. Das gelang aber nur durch eine gut ausgesuchte Starbesetzung und gute Drehbuchautoren und in einigen Fällen mit den immer gezielten Blick auf den Geschichtsvoyeurismus des Megakinos. Bei Amenabar ist an der Regie, an der Kamera und im Schnitt nichts auszusetzen, lediglich das Drehbuch bringt zu wenig und ich finde im Gegensatz zu vielen anderen Kritikern, die musikalische Untermalung als nervend und schwülstig.
Das Grundthema des Plots, Freiheit, Wahrhaftigkeit, Massenpsychologie des Fanatismus, instrumentalisierte Verführbarkeit der Massen ohne irgendeine Ideologie oder Religion besonders herauszuheben ist gelungen, allein bezweifle ich es, dass gerade das Publikum in den großen Kinos das versteht und zu goutieren weiß. Denn zum einem gehören auch profunde Geschichtskenntnisse hinzu und vor allem die entscheidende Frage wie wir rückwärts gewandt wirklich verstehen, was das für eine Mamuttleistung es zu jenen Zeit war, die Physik, die Geometrie und die Astronomie im herrschenden Meinungsbild der Spätantike nachvollziehen zu können. Und es bedarf guter Kenntnisse der mediterranen Politik und Religionsvielfalt zu jenen Zeiten. ich habe bewusst den Film in einem Kinopolis gesehen, da waren zur besten Abendvorstellung in einem 300 Plätze Saal gerade mal 20 Zuschauer und aus den unentwegten Geplapper und Popkornvernichtungsgeräuschen hörte ich heraus, dass die Leute kaum etwas verstanden, sie wollten antike Action, Schwertkämpfe, schwülstige Erotik oder Heroentum sehen. Ich hörte heraus, dass sie genau das, was Amenabar vermitteln wollte, nicht verstanden haben.
Und da beißt sich die Katze in den Schwanz, da komme ich als ehemaliger kreativer Werbeprofi zu der Ansicht: Thema zwar außerordentlich ästhetisiert, aber die Zielgruppe nicht erreicht. Die Leute brauchen einen Mediator, sie brauchen eine Erklärung und ein Debatte über den Filmstoff. Wie in "Troja oder Gladiator" wollen die Leute die Banalität des Heldentums sehen und die schwarz-weiß Malerei Gut und Bös oder Edel und Verschlagen. Mit Brad Pitt und Russel Crowe lockt man die Leute ins Kino und dann ist es den Zuschauern gleichgültig wie beschissen der Stoff ist, den sie serviert bekommen. Rachel Weisz, Max Minghella und Michael Lonsdale in allen Ehren und Hochachtung vor der schauspielerischen Leistung aller Hauptakteure, aber die Masse, genau wie die Masse im Film dargestellt wurde, braucht andere Heroen. So wird der Film wahrscheinlich an den deutschen Kinokassen ein Flop. Ich will noch mal Spartacus erwähnen, den Kubrick als Auftragsarbeit gedreht hat, der aber ein Meilenstein des Sandalenfilms war, auch weil Dalton Trumbo das Drehbuch geschrieben hat. Und ich erinnere an "Heavens Gate", jenem exorbitanten Flop, den kaum jemand verstanden hat und deshalb zur Finanzkatastrophe wurde. Die Rollschuhballhausszene ist Filmgeschichte, aber keiner wollte sie sehen.
Alles in allem stehe ich hinter Amenabar und es muss versucht werden, eine erklärende Nachbearbeitung dieser Film mit dem Publikum zu erreichen, das, was wir immer versuchen.

Wolfgang Neisser
Mario Sidelesi TEAM sagte am 18.03.2010 um 12:46 Uhr

Zunächst einmal vielen Dank für dieses ausführliche Feedback, das vollgestopft mit hilfreichen Anmerkungen ist.

Die Kritik am Drehbuch kann ich ansatzweise nachvollziehen, gelingt es doch offensichtlich nicht völlig, die hoch gesteckten intellektuellen Ansprüche mit den Bedürfnissen eines großen Publikums verschmelzen zu lassen. Das der Film daher zwangsläufig scheitern muss an den Kinokassen, ist auch in meinen Augen leider garantiert.

Geschichtskenntnisse setzt Amenabar sicher voraus und ich rechne ihm hoch an, das er nicht im Schnelldurchlauf eben diese vermitteln will. Auch wenn er nicht um die üblichen Texttafeln herum kommt um die Handlung zu kontextualisieren, hätte er auf dieses überflüssige Anhängsel auch verzichten können. Welch eine Leistung die damaligen Wissenschaftler/Philosophen erbracht haben, wird dagegen relativ deutlich, auch welch zermürbende Denkprozesse hinter den gewonnen Erkenntnissen stehen.

Dementsprechend ergreifend ist auch die Zerstörung der Bibliothek geraten, die mich unweigerlich an Marcel Reich-Ranicki erinnert hat. In einem Interview hatte der mal - unter Tränen - von einer Bücherverbrennung erzählt, der er als junger Mensch beiwohnen musste. Wie er über die loderneden Flammen berichtet hat, die vor seinen Augen Heinrich Mann und andere Weltliteratur verschlangen, hatte etwas zutiefst bewegendes.

Der von ihnen erwähnte Verzicht auf Heroisierungen. SPARTACUS funktioniert eben auch als Blockbuster weil er eine starke, männliche (!) Hauptfigur bietet. Ohne Kubricks brillante Regie und Trumbos doppelbödiges Drehbuch, das zwischen den Zeilen so viel erzählt, wäre der Film auch wohl ein schlicht-schwülstiges Heldenporträt.
NicerArt sagte am 18.03.2010 um 13:06 Uhr

Das ist richtig, was Sie schreiben. Ich gebe Ihnen auch recht, wenn Sie die Vernichtung der Bibliothek erwähnen, das ist eine sehr tiefgreifende und beeindruckende Szenenfolge.
In meinen Augen ist die Kameratechnik besonders hervorzuheben, allein die Szene, wenn der Mob die Bibliothek stürmt und die Kamera die Welt ganz langsam auf den Kopf stellt. Oder die aus sehr hoher Vogelperspektive aufgenommene Darstellung des hin- und herwieselnden Mobs in Zeitraffer, dazu ein schnitt zu Ameisen.
Aber in einem bleibe ich bei meiner Meinung, wenn es um Geschichtskenntnisse geht und wenn es darum geht einem Publikum, dem es selbstverständlich ist, dass sich die Erde um die Sonne dreht, dass die geometrischen Formeln eben nur zu lernende, allgemein bekannte Formeln sind, da verstehen die meisten nicht, wie schwer es war, aus dieser geschichtlichen Perspektive den Dingen auf den Grund zu gehen. Im Zeitalter der Digitalisierung wird ja doch alles von Computerprogrammen vorgekaut und wie schnell vergißt man die Sätze von Euklid oder Pythagoras. Und die philosophische Kernkompetenz von Hypathia ist leider nur sehr begrenzt dargestellt, denn die Erkenntnisse aus Astronomie und Geometrie oder Algebra sind auch Fundamente der Philosophie im weitesten Sinne.
Dieser Film gehört in die kleinen Filmkunstkonos, denn den meisten Cinephilen ist es verhasst, in diesem Cineplexxen zwischen Popcorn, Geplapper und dummen Kommentaren Film wie Delikatessen zu goutieren.
Amenabar ist eine große Hoffnung des europäischen Films und wird sicherlich noch für viel Furore sorgen. In diesem Sinn weiterhin viel Vergnügen und lebendige Debatten.
Übrigens ist Spartacus zwar ein Blockbuster, aber immerhin mit Niveau, es ist ohnehin ein interessantes Thema "Masse Mensch" als cineastisches Stilmittel oder dramaturgisches Element zu untersuchen.

Wolfgang Neisser
Mario Sidelesi TEAM sagte am 18.03.2010 um 14:30 Uhr

Ja, die Umkehrung des Bildes ist außerordentlich intensiv gelungen und verdeutlicht wie kaum eine Sequenz im Genre zuvor, wie sich eine bestehende Ordnung aus den Angeln löst. Ganz großes Kino, hab ich leider vergessen zu erwähnen. Überhaupt habe ich die Kameraführung als sehr ausdrucksstark empfunden, die Aufnahmen aus der Vogelperspektive haben mir schlicht den Atem geraubt. Das dem Ganzen etwas antiseptisches anhaftet ist mir dabei zwar aufgefallen aber dieses Manko konnte mir den Film nicht verhageln.

Amenabars reine Genrefilme (wie der unterschätzte und zu Unrecht gefloppte THE OTHERS) stehen für mich zwar hinter seinen Meisterwerken ÖFFNE DIE AUGEN und DAS MEER IN MIR, verdeutlichen aber seine Vielseitigkeit. Der war für mich schon nach seinem zweiten Film ein ganz Großer - und bisher hat mich keiner seiner weiteren Filme kalt gelassen.

Für das Thema "Masse Mensch" eignet sich der Monumentalfilm ja wie kein zweites Genre und speziell dazu hat sich Amenabar im Film-Dienst geäußert. AGORA soll aufräumen mit den vom Kino gepflegten Vorstellungen antiker Schlachten und den dazu gehörigen Menschenmassen. Auch in dieser Hinsicht wählt er also einen neuen, sehr überlegten Ansatz - rückblickend wird AGORA wohl sicher die verdiente Aufmerksamkeit zukommen.

Im Programmkino wäre er sicherlich besser aufgehoben aber selbst dort versauen mit Popcorn- und Chips-Tüten fast immer das Vergnügen. Hat sich sogar mal jemand gewagt bei SO FINSTER DIE NACHT direkt hinter mir eine Tüte gerösteter Erdnüsse zu verspeisen - zumindest bis er von mir zurecht gewiesen wurde... ;)

Übrigens: Gibt es von ihnen auch Kritiken zu lesen?
NicerArt sagte am 18.03.2010 um 15:06 Uhr

Stimme im Großen und Ganzen überein, aber das Beste ist die Form der konstruktiven und kompetenten Auseinandersetzung mit diesem Film - mit Filmen im allgemeinen. ich selbst schreibe immer wieder auf "unverschämte" oder "nicht zutreffende, verfehlte" Kritiken in ZEIT, TAZ, SZ oder Spiegel. Ich sammle Filme, bin schon seit über 40 Jahren dabei, kenne auch Filmleute, die heute nicht mehr so oft erwähnt werden, auch weil sie schon verstorben sind: Frieda Graefe, Enno Patalas, Theo Kotulla und Ulrich Gregor, aber auch das ist schon eine Weile her. Meine alte Freundin Barbara Naber hat früher für die Frankfurter Rundschau Kritiken geschrieben, also ein recht cineastischer Freundeskreis.
Ich würde gerne offiziell mehr schreiben, aber mein Angebot an den Filmdienst und die Stadt Revue wurden nicht berücksichtigt, weil sie ohnehin schon sehr viele freie Schreiber haben.
Außerdem führe ich im Freundeskreis Filme vor und thematisiere das Gesehene hinterher aus unterschiedlichen Ebenen: Philosophie, Psychologie, Ästhetik, Dramaturgie etc.
Es ist einerseits erschreckend wie viele Menschen zwar Filme sehen, aber wie wenige sie richtig verstehen können, da ist ein großer Bedarf an Begleitung notwendig, das versuche ich eben in Diskussionen aufzulösen. Vorträge und Seminare wie es an verschiedenen Hochschulen der Fall ist, lehne ich ab, da die Vortragenden den Hörern zu oft eine einseitige Sicht ihrer Wahrnehmung einbläuen wollen.
Aber ich werde immer weiter mit Filmen leben und andere daran teilhaben lassen. im übrigen habe ich vor vielen Jahren Filmbilder gemalt, die immer noch von denen, die sie gesehen haben, ganz gut gefunden werden. meine MuSehensWürdigkeiten kann man unter www.nicer-art.de sehen

Wolfgang Neisser

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