Der historische Zeitraum von 1954 - 1959 bezeichnet einen besonderen Einschnitt und eine folgenstarke Veränderung in der Geschichte des Films, sowie neue Aspekte in der Diskussion und der Wahrnehmung des Films. 1959 besiegelte Francois Truffauts
„Sie küssten und sie schlugen ihn„ (original: Les Quatre Cents Coups“) schließlich die sich theoretisch bereits seit fünf Jahren abzeichnende Entwicklung einer neuen, revolutionären Filmepoche– die
„Nouvelle Vague“ (die neue Welle).
Und auch bei dieser Revolution war wieder einmal Frankreich der Herd des freien Geistes und der Initiator im Setzen neuer Maßstäbe – eine radikale langfristige Veränderung des Films, dessen Machart und dessen Sujets die Folge war und sich von Frankreich ausgehend auf ganz Europa ausgebreitet hatte.
Verantwortlich zu machen für diesen Prozess sind die Autoren und Filmkritiker der französischen Filmzeitschrift „Les Cahiers du cinéma“ um den Gründervater und Filmrezensenten André Bazin. Es waren insbesondere die Autoren
Francois Truffaut,
Jean-Luc Godard,
Jacques Rivette,
Eric Rohmer und
Claude Chabrol, die sich intensiv mit dem französischen und internationalen Film auseinander setzten und zum Schluss kamen, dass die zeitgenössischen Filme zwar technisch und stilistisch einwandfrei gemacht sind, jedoch immer mehr in die schauspielerische Überkünstelung, inszenatorische Abgehobenheit und narrative Vorhersehbarke
it vor kommerziellem Hintergrund verkamen und damit emotional verarmten.
Francois Truffaut kritisierte den zeitgenössischen (französischen und amerikanischen) Film von allen seinen Kollegen am radikalsten. Er sah in den modernen Filmen die Technik überladen von
„geleckter Fotografie, ausgeklügelten Einstellungen und komplizierten Belichtungseffekten“ – aufwendig aber unnütz – ja sogar schädlich für die Handlung, die Schauspieler und den Dialog. Statt authentischen Menschen in wahrhaft problematischen Situationen waren die Protagonisten eingeschlossen in einer künstlichen Welt und ihre Artikulation
„verbarrikadiert von Formeln, Wortspielen und Maximen“. Es wurde kritisiert, dass diese Filme zwar eine gekünstelte Perfektion erreichten, damit aber sämtliche Emotionalität und Seele aufgaben. Dem entgegen setzte Francois Truffaut die mutigen, innovativen und vielschichtigen Werke von Filmemachern wie Alfred Hitchcock, Howard Hawks und Ingmar Bergman und setzte in Kontrast den Film als Kunstwerk gegenüber der kommerziellen Routine der zeitgenössischen Filmemacher.
Truffaut blieb aber nicht stehen bei seiner Kritik, sondern ging konsequent weiter und schuf den ersten wegweisenden Film der Nouvelle Vague, der persönlicher, emotionaler und in seiner beschwingten Narration von seinen Kollegen und Truffaut selbst wohl kaum wieder erreicht wurde:
„Les Quatre Cents Coups“.
Die Handlung ist zentriert um den 13-jährigen Jungen Antoine Doinel (eindringlich gespielt von
Jean-Pierre Léaud) und zeigt seinen Alltag und seine Konflikte in einer autoritär-repressiven Gesellschaft – in einem ärmlichen Paris der 50er. Antoine ist ein aufgeweckter und robuster Junge, ein Kind aus einem kleinbürgerlichen, sozial und finanziell bedürftigen Haushalt – ein Mensch, der in seiner Phase des Erwachsenwerdens auch im Begriff ist die harten und deprimierenden Seiten des Lebens am eigenen Leib zu erfahren.
Truffaut eröffnet auch gleich mit dem tristen, unterdrückenden Schulalltag im Klassenzimmer zur Französischstunde des zynischen Lehrers Petite Feuille (Guy Decomble brilliert in einer überzeugenden Tyrannen-Rolle). Aufgrund seines autoritären Lehrstils herrscht im Klassenzimmer fast durchgehend betretene Ruhe, die nur selten von einigen wenigen rebellierenden Schülern in eruptiven Ausbrüchen von Auflehnung gegen die strenge Linie des Alten aufgebrochen wird. Antoine ist einer solcher Querulanten und Freigeister.
Der auffallende und die meiste Zeit ernste Junge ist zwar bemüht, dem Unterricht zu folgen, lenkt aber die unüberwindliche Missgunst des Lehrers auf sich, als er bei einem Streich eiskalt erwischt wird (beim Bemalen eines Pin-Up-Fotos während des Unterrichts). Der verbitterte, griesgrämige Petite Feuille ist höchst unzufrieden mit seinen Schülern, denn sie können dem von ihm vorgegebenen Niveau, das er als die Grundvoraussetzung eines fruchtenden Schulunterrichts sieht, nicht entsprechen und sind nicht in der Lage, dem Unterricht auf Dauer zu folgen. Seine Reaktion daraufhin ist, statt Verständnis und Entgegenkommen, Empörtheit und siedende Wut. Bei Antoine verschafft er sich das Ventil und dieser hat seitdem die Kollektivschuld der Klasse zu tragen – ihm wird für seine Vergehen die Schulpause gestrichen, er muss ein langes, schwieriges Strafgedicht schreiben und wird in Bezug seiner schulischen Leistungen an den Pranger gestellt. Antoines bester Freund Rene (Patrick Auffay) bringt es treffend auf den Punkt:
„Antoine, Petite hat dich auf dem Kieker.“
Doch auch zu Hause hat es der Junge nicht viel leichter. Zwischen den Eltern werden permanent Spannungen ausgefochten, die Mutter (Claire Maurier) ist frustriert vom Job und von ihren familiären Verpflichtungen zum Sohn und Mann, zudem findet sie die Situation in der Wohnung erbärmlich, trägt zu deren Verbesserung jedoch keinen Deut bei. Sie hat zu früh geheiratet und ein Kind bekommen, sich von ihrem damaligen Ehemann, Antoines biologischem Vater, getrennt und nochmals geheiratet – jetzt fühlt sie sich zu schnell in die Rolle der Ehefrau und Mutter gedrängt und versucht daraufhin mit kleinen Affären und Sex-Abenteuern ihre erotische Wirkung auf die Männerwelt heimlich auszukosten. Das Familienoberhaupt Julien Doinel (Albert Rémy) ist gleichermaßen unzufrieden mit seiner Position. Er kann sich gegen die Frau nicht behaupten, durchschaut in ihren plumpen Ausflüchte immer öfter die Seitensprünge, und kann zu Antoine keine persönliche, emotionale Beziehung aufbauen, da er nicht sein leiblicher Vater ist. Er versucht dem Jungen zwar von Zeit zu Zeit mit Tipps und Lebensweisheiten aus seinem eigenen Erfahrungsrepertoire zu helfen, benimmt sich aber ansonsten sehr distanziert zu ihm. Juliens Refugium ist sein Hobby – der bereits zum Fetisch gewordene Enthusiasmus für Autos und Zubehör.
Antoine ist somit auch in seiner Familie zum Außenseiter abgestempelt, was sich auch schon darin deutlich abzeichnet, dass sein Zimmer lediglich ein zur Schlafstätte (bestehend aus Matratze und Schlafsack) umfunktionierter Flur zur Hintertür der Wohnung ist (ein kärglich eingerichtetes Durchgangszimmer) und sein Beitrag im familiären Haushalt sich aufs Ofenheizen und Müllentsorgung beschränkt.
Dennoch lässt sich Antoine nicht unterkriegen, erfüllt seine ihm aufgetragenen Pflichten so gut wie möglich und sehnt sich nach Ablenkung und Zerstreuung. Diese erfüllt er sich gemeinsam mit seinem Freund Rene – ein im Prinzip ebenso völlig vernachlässigter Junge, auch wenn aus einem reichen Hause stammend. Gemeinsam schlendern sie durch die Gassen und Parks von Paris, amüsieren sich auf dem Rummelplatz und suchen ihre Helden und Vorbilder in den Kinos (die sie dann nach der Vorstellung imitieren und nachsprechen).
Besonders für Antoine entwickeln sich diese Zerstreuungen zum eigentlichen Lebensinhalt und Zufluchtsort vom erdrückenden Alltag und als die Erniedrigungen in der Schule und zu Hause ein unerträgliches Ausmaß annehmen, nimmt der Gepeinigte vollends Ausreiß. Einfallsreichtum, Sturheit und Renes Unterstützung helfen Antoine anfangs sich eine Zeit lang über Wasser zu halten, doch irgendwann ist der Hunger zu groß und die letzten Francs aufgebraucht. In seiner Notlage beschließt der Ausgerissene die Schreibmaschine aus dem Büro seines Stiefvaters zu stehlen, wird aber vom Pförtner erwischt und angezeigt.
Antoines Bestreben nach Freiheit erlebt in der Folge ein jähes Tief, als er eingesperrt wird und die weitere Aussicht eine Einweisung in ein Heim für Schwererziehbare ist. Doch für Antoine ist die Anstalt lediglich nur eine andere Form von einem Gefängnis, das er bereits in der Schule und in der elterlichen Wohnung erlebt hat. Er hat mittlerweile gelernt, auf den eigenen Beinen zu stehen und für sein Ziel zu kämpfen. Der nächste Ausbruch ist nur eine Frage der Zeit.
„Sie küssten und sie schlugen ihn“ trägt wahrlich eine eigene Note unter den Filmen seiner Zeit. In seiner Struktur, Symbolhaftigkeit und Inhalt bildet der Film ein harmonisches Ganzes und haucht den Atem des Autorenkinos. Francois Truffaut stützt in seinem ersten Langfilm die Handlung im Grunde auf seine eigene Autobiografie und Erfahrungen als Schüler. Bevor Truffaut angefangen hatte, sich eingehend mit Literatur, dem Schreiben und dem Film auseinander zu setzen hat er ebenfalls viele Scherereien in der Schule mit Lehrern und Schülern auszustehen gehabt, hat die Schule abgebrochen und ist wie Antoine letztendlich in einem Erziehungsheim gelandet. Es ist daher ein offensichtliches Verlangen Truffauts, in seinem ersten Film von seinen Erfahrungen zu erzählen und dem Schulalltag einen entscheidenden Teil des Films zu widmen.
Truffauts Film trägt dabei eine ziemlich desillusionierte Aussage von Frankreichs Ellenbogen-Gesellschaft und dem kläglichen Versagen der Lehrer und Erziehungspersonen, die der Regisseur in schon dokumentarischer Genauigkeit vor Augen hält. Nichtsdestotrotz strotzt der Film von humorvollen Situationen, die sich meistens aus einem sehr ernsten Kontext ergeben. Eines solcher köstlichen Momente ergibt sich, wenn die Kamera von Henri Decaë langsam durch das Klassenzimmer schweift und die Schüler in aufgezwungenem Bemühen über eine Diktatmitschrift zeigt – einer der zahlreichen Szenen, in denen der Lehrer Petite seine Zöglinge in festem Griff zu haben scheint. Und gerade diese bittere, freudlose Situation wird von Truffaut kurzzeitig entkräftet, wenn er einen Schüler herausgreift und dessen Bemühen mitzukommen und das Diktat fehlerfrei und in Schönschrift ins Heft zu übertragen, persifliert. Das Herausreißen von Blättern, wenn der Junge sich verschreibt, und dessen steigende Frustration, nicht mitzukommen, wird an die Spitze getrieben und irgendwann sind tatsächlich alle Blätter aus dem Heft gerissen und die sich einstellende Resignation beim Knaben mehr komisch als tragisch.
Durch Szenen dieser Art wird die zur Realität gewordene Tristheit stellenweise aufgehoben und lässt Optimismus und die schönen Seiten des Lebens durchscheinen. Das ist einer der Gründe warum „Sie küssten und sie schlugen ihn“ so authentisch wirkt und den Zuschauer in die Handlung miteinbezieht.
Der Protagonist Antoine ist gezeichnet von großer Ambivalenz in seinem steten Wandel zwischen zwei Welten. Die Welt der Unterdrückung und das omnipräsente Gefühl des Eingesperrtseins manifestiert sich als Hauptcharakteristik von Antoines Alltag, sei es in den übervollen Klassenzimmern, der engen und von Möbeln verstellten Wohnung und dem käfigartigen Gefängnis der Polizeistation (in dem er eine Nacht verbringen muss), oder durch die von Autoritäten und Pädagogen ausgeübten Vorschriften und Tadel. Dieser Welt gegenüber steht der Wunsch nach Ausbruch, aus den engen, stickigen Räumen in die weiten, dynamischen Straßen und Parks und auf den Rummelplatz von Paris, aber auch das Einatmen von der Freiheit und dem großen Wunsch des Knaben, den eigenen Tagesablauf selbst bestimmen zu können und sich über die strengen Vorschriften hinweg zu setzen. Antoines Traum ist konsequenter Weise die größte aller Freiheitserfahrungen - das Meer zu sehen.
Truffaut füllt seinen Film auch mit vielen akribisch ausgearbeiteten Details, wie z.B. das unpersönliche Verhalten der Lehrer gegenüber den Schülern, sowie deren verschrobene Art und Hang zur Grausamkeit gegenüber den ihnen ausgelieferten Jungen. Die Charaktere sind alle sehr sorgfältig gezeichnet (so dass deren Motive und Hintergründe für den Zuschauer sehr nachvollziehbar sind und man sich mit den Handelnden auch leicht zu identifizieren vermag), wenn sie geplagt werden von den typischen Problemen des Alltags und untereinander in Dialogen interagieren, die einem sehr vertraut und alltagsnah erscheinen. Obwohl der Film in den 50ern in Frankreich spielt, sind dessen Themen wie Leistungsdruck, gesellschaftlich fundiertes Rollenverhalten, Betrug, Diebstahl, Verzweiflung, Untreue und Verlangen nach Selbsterfüllung zeitlos und auch auf das moderne Leben von heute übertragbar.
Auch wenn „Sie küssten und sie schlugen ihn“ mit langen Kamerafahrten, kunstvoller Bildgestaltung (Truffaut selbst war die mise-en-scéne ein wichtiges Anliegen) wenig Schnitten und Plansequenzen auf sehr viele filmästhetische Stilmittel zurückgreift, wirkt der Film nicht wie ein stilistisch überladener und künstlich wirkender Hollywoodfilm, sondern ist vielmehr von hohem Dokumentarcharakter durchsetzt. Das kommt davon, dass Truffaut sich weigerte, auch nur eine Aufnahme in einem Studio zu drehen und sich direkt auf die Straßen, in real existierende Wohnungen und Klassenzimmer begab und seine Kameras direkt im Alltagsgeschehen platzierte. Die Kinematographie ist auch nicht statisch, sondern setzt zahlreiche kreative Ideen und Einfälle um und ist dabei immer nah dran an den Schauspielern (was besonders bei Jean-Pierre Léaud eine Freude ist, da er die Gabe hat, ohne Worte mimisch die Emotion auf den Zuschauer unmittelbar zu übertragen). Durch den sporadischen Schnitt tastet die Kamera den Raum der Handlung lange ab und bietet den Schauspielern auch die dementsprechenden Entfaltungsfreiheiten. Auffallend ist dabei wie oft Léauds Präsens den Film dominiert; auch in den Szenen, in denen sein Gesicht nicht zu sehen ist, spürt man (sei es durch die Dialoge der Eltern, Lehrer, Pädagogen oder die vorherige, eindringliche Szene) den direkten Bezug zu ihm und fühlt sich, sobald man sich auf den Charakter erst einmal eingelassen hat, am Geschehen direkt beteiligt.
Auch die Musik ist dezent gehalten und versetzt mit ihren melodischen Klavier- und Klarinette-Tönen die emotionalsten Szenen in eine sehr atmosphärische Stimmung.
Es lassen sich noch viele andere technische Raffinessen und liebevoll eingestreute Details von Truffauts Liebe zum Film, der Aufarbeitung von Jugenderlebnissen und seinem souveränen Freigeist in dem Film aufzählen. Auf diese einzugehen und den direkten, stimmigen Bezug zu den Charakteren und der Handlung des Films zu ziehen, würde sehr viel Spaß bereiten und dabei noch mehr Zeilen erfordern, doch an dieser Stelle sei einfach die Empfehlung an den geneigten Leser gerichtet, sich dieses Juwel der Filmgeschichte selbst anzuschauen und sich zu überlegen wie viel man doch seiner eigenen Kindheit an wertvollen Erinnerungen und Stoff für mitreißende Geschichten zu verdanken hat.