von Asokan Nirmalarajah
Als Michel Gondrys originell verschachtelte, bittersüße romantische Tragikomödie
Vergiß mein nicht! 2004 in die Lichtspielhäuser kam, waren Rezensenten aller Orts – zu Recht – hellauf begeistert: nicht nur dass der visuell einfallsreiche Film es fertig brachte, die Euphorie zu Beginn und die Frustration zum Schluss einer innigen Beziehung zwischen Mann und Frau einzufangen, er überzeugte auch als komplex strukturierter, selbstreflexiver Rückblick auf die Höhen und Tiefen der in die Brüche gegangenen Beziehung durch die entschieden subjektive Sicht des männlichen Protagonisten. Ohne aber den Verdienst dieses heut schon als Klassiker zu wertenden Meisterstücks postmoderner, jedoch emotional erstaunlich resonanter Spielerei schmälern zu wollen, sei hier darauf verwiesen, dass Woody Allen 1977 mit seinem vielleicht populärsten und gelungensten Werk
Der Stadtneurotiker metafilmisch bereits erfahren genug war, um die traumhafte Instabilität, Konstruiertheit und assoziativ grenzenlose Form des Filmmediums zu nutzen, um eine ähnlich komplexe, kluge Bestandsaufnahme einer für den Protagonisten unvergesslichen Beziehung anzufertigen, die sowohl amüsiert wie berührt in ihrem erwachsenen, nüchternen Blick auf die diversen antagonistischen Kräfte, die in zwischengeschlechtlichen Beziehung
en herrschen und der (Un-)Möglichkeit letzterer.
I thought of that old joke, y’know, this guy goes to a psychiatrist and says, “Doc, uh, my brother’s crazy; he thinks he’s a chicken.” And the doctor says, “Well, why don’t you turn him in?” The guy says, “I would, but I need the eggs.” Well, I guess that’s pretty much how I feel about relationships; y’know, they’re totally irrational, and crazy, and absurd, but I guess we keep goin’ through it because most of us... need the eggs. – Alvy Singer
Die emotional aufgewühlte Situation des hierzulande so titulierten
Stadtneurotikers Alvy (Woody Allen) zu Beginn der Handlung spiegelt die des
Vergiß mein nicht!-Protagonisten: die Freundinnen haben sie verlassen und die verständnislosen Männer beginnen prompt über Sinn und Unsinn romantischer Beziehungen zu reflektieren. Singer tut dies, indem er sich direkt an das Kinopublikum richtet und damit die vierte, üblicherweise geschützte Wand des filmischen Raumes bricht, die üblicherweise für die illusorische, voyeuristische Distanz zur Filmhandlung sorgt. Fortan folgen wir also unserem Erzähler, einem erfolgreichen TV-Komiker und Bühnenautoren wie Allen selbst, wie er in assoziativer, chronologisch sprunghafter Reihenfolge seine turbulente Beziehung zu der schrulligen Amateur-Sängerin Annie Hall (Diane Keaton) Revue passieren lässt, und simultan die Folgen seiner Kindheit, seiner Familie, seinen früheren Beziehungen und seinen Neurosen auf die Beziehung mit Annie versucht zu erörtern, und so mit ihr abzuschließen…
Der englische Originaltitel dieses Kritiker- und Publikums-Erfolgs, der damals George Lucas und seinem ersten
Krieg der Sterne-Werk die Film-, Regie- und Drehbuch-Oscars wegschnappte,
Annie Hall, weist richtigerweise darauf hin, dass die zentrale Person hier die weibliche Hauptfigur ist, wobei man aber anmerken sollte, dass sie oft nur aus der Sicht des männlichen Erzählers wahrgenommen wird und so vorerst nur eine männliche Wunsch- bzw. Alptraum-Konstruktion ist. Keatons Oscar-prämiertes, irrsinnig charmantes, sprödes Spiel aber sorgt dafür, dass Alvys wortgewaltige, männliche Definitionswut zusehends an ihre Grenzen stößt. Während er sich zu Beginn der Beziehung noch als ihr Mentor aufspielt, sie zu universitären Kursen und Psychiaterbesuchen überredet, und ihren musikalischen Entfaltungsmöglichkeiten im Weg steht, wird die ihm ungleich lebensfrohe Annie bald autonomer und entzieht sich den Wortgefechten des egoistischen, besitzergreifenden Alvys, der sich schon bald nach ihrer emotionalen Stütze sehnt…
There's an old joke - um... two elderly women are at a Catskill mountain resort, and one of 'em says, "Boy, the food at this place is really terrible." The other one says, "Yeah, I know; and such small portions." Well, that's essentially how I feel about life - full of loneliness, and misery, and suffering, and unhappiness, and it's all over much too quickly. The... the other important joke, for me, is one that's usually attributed to Groucho Marx; but, I think it appears originally in Freud's "Wit and Its Relation to the Unconscious," and it goes like this - I'm paraphrasing - um, "I would never want to belong to any club that would have someone like me for a member." That's the key joke of my adult life, in terms of my relationships with women. – Alvy Singer
Wie die meisten Filme von Allen lebt auch dieser Genre-Klassiker der romantischen Komödie, der natürlich auch wieder eine unverschämt offene Liebeserklärung an Allens Lieblingsstadt New York ist, von dem schier unerschöpflichen Wortwitz, den (pseudo-)intellektuellen Obsessionen und der überraschend ergreifenden emotionalen Authentizität der recht schablonenhaft gezeichneten Figuren, die oftmals von den sympathischen, enthusiastisch spielenden Mimen belebt werden. Manchmal aber greift Allen bei der Besetzung daneben und hat dann einen so blassen Akteur wie Tony Roberts in der dünnen Rolle seines besten Freundes Rob. Doch dies ist ein leicht zu verschmerzender Schnitzer, wenn man beachtet wie erinnerungswürdig die übrige Besetzung ist. Diane Keaton, die sich unzähligen Quellen zufolge quasi selbst spielt, trägt die schwierige Figur der Annie Hall ohne erkennbare Anstrengung, während viele interessante Gesichter aus dem Kino der 70er Jahre ihr Stelldichein geben: neben Shelley Duvall und Carol Kane ist es vor allem Christopher Walken der einen bleibenden Eindruck hinterlässt als Annies spinnerter Bruder mit Suizidwunsch. Was
Annie Hall aber wirklich erinnernswert macht und zum mehrmaligen Schauen einlädt ist die filmisch stets intelligente Umsetzung, die Raum und Zeit außer Kraft setzt und narrative Grenzen aufhebt, damit die Figuren in den assoziativ sehr reichen Gedanken des Erzählers über jegliche Barrieren hinweg miteinander und übereinander kommunizieren können. Mehr noch als das ambitionierte
Vergiß mein nicht! beginnt und endet
Annie Hall also im Kopf unseres Helden, dessen Herzschmerz und die bittersüßen Reflektionen, die es auslöst, das amerikanische Kino sogar heute noch prägen.