(USA, 1980)
“How´d you like to disappear?“
Als die Premiere zu Ende ging, kamen befreundete Journalisten auf William Friedkin zu und fragten ihn, ob er denn unbedingt zur Pressekonferenz wolle. Als er bejahte, raunten sie ihm zu: „Puh, du bekommst ordentlich Ärger!“
Er war nie ein einfacher Regisseur. Hinter
Der Exorzist (1973) verbergen sich ultrakonservative Konnotationen, und
Rules of Engagement (
Rules – Sekunden der Entscheidung, 1999) ist ein perfides, menschenverachtendes Stück Dreck, neben dem sich
Independence Day wie ein multikulturelles Come Together ausnimmt. Als Friedkin den Krimithriller
Cruising drehte, war er einer der erfolgreichsten Regisseure des Jahrzehnts. Doch dieser Film sollte eine harten Probe werden. Bis heute wird man ihn wohl vornehmlich unter der Fragestellung rezipieren, ob er schwulenfeindlich sei oder nicht. Die Gretchenfrage, an der sich bis heute alle Geister scheiden.
Das war schon vor der Kinopremiere ein Thema, Homosexuellenverbände liefern während den Dreharbeiten Sturm. Rund 300 Polizisten schützen die Locations in New York, einige Szenen mussten nachgespielt und nachgesprochen werden, da sich Demonstranten auf das Dach und in die Nachbarappartements der Drehorte schlichen und dort die Stereoanlage aufdrehten oder auf dem Dach herum sprangen. Erschwerend hinzu kommt, dass Friedkin sage und
schreibe vierzig Minuten nicht in den Final Cut retten konnte und somit aus ursprünglich hundertvierzig Minuten nur siebenundneunzig wurden. Das erklärt vcermutlich auch, warum
Cruising, vor kurzem zum ersten Mal in Deutschland als DVD veröffentlicht, so fragmentarisch und mehrdeutig geworden ist.
Damit nicht genug. Auch als Krimi mit klassischem Who-done-it-Plot ist dieser Film ein Mysterium. Viele behaupten, durchaus zu Recht, den Mörder zu kennen. Andere fragen immer wieder, wer denn nun der Mörder sei. Richard Cox, einer der Darsteller, antwortet dann immer verschmitzt: „Wer soll es denn sein?“ Ein Persona-Verwirrspiel in einem Film, der in keiner Sekunde intellektuell oder kapriziös daher kommt und trotzdem Konfusion hoch drei auslöst. Wie gesagt: fragmentarisch und mehrdeutig.
Mit Al Pacino hatte der Erfolgsregisseur einen veritablen Qualitätsgaranten an Bord, der sich mit Bullenrollen bestens auskannte; eine Oscarnominierung bekam er für Sidney Lumets
Serpico (1973). Hier spielt er den jungen Polizisten Steve Burns, der von seinem Chef Captain Edelson (Paul Sorvino) auf einen Serienmörder angesetzt wird, der in der New Yorker Schwulen-SM-Szene wütet und seine Sexualpartner tötet, oder wie es in dem Film noch etwas altbacken heißt: im ‚Ledermilieu’. Für Steve ist der Fall in erster Linie der Frondienst, um an eine Detektivmarke zu kommen und sich für höhere Aufgaben zu qualifizieren. Doch sein Chef schärft ihn von Anfang an darauf ein, dass es sich bei einer verdeckten Ermittlungsarbeit um ein Langzeitprojekt handelt, das mehr als vollen Einsatz erfordert. Wenn er ihn fragt: „Möchten Sie für eine Weile verschwinden?“, ist das bereits eine Vorschau auf Kommendes.
Steve bezieht eine Wohnung in der Bronx und freundet sich mit dem homosexuellen Hobbyschriftsteller Ted (Don Scardino) an. Sein Leben findet von nun in der Nacht statt, in den einschlägigen Szeneclubs der Stadt. Das Eintauchen in eine für ihn fremde Welt ist vor allem mit Lernarbeit und Mimesis verknüpft. Sexuelle Codes und Verhaltensregeln muss er beherrschen, um Fuß zu fassen. Nach einem ersten Fehlschlag, ein Verdächtiger entpuppt sich als unschuldig, hat er eine neue Fährte aufgenommen, die vermeintlich zum Erfolg führt. Aber Steve ist nicht mehr derselbe wie vorher. Dieser Fall hat ihm eine gehörige Identitätskrise eingebrockt, aus der er bis zum Schluss keinen Weg findet.
Wenn man schreibt,
Cruising sei fragmentarisch, dann ist das teilweise noch ordentlich untertrieben. Manchmal kommt einem der Film wie ein Skelett auf Zelluloid vor. Pacino, sonst ein Derwisch und Energiebolzen, agiert so unterkühlt und zurückgenommen, dass man am liebsten seine Temperatur nachfühlen wollte. Seine Identitätskrise lässt sich mehr erahnen als offen erkennen, ein paar kurze (und sehr offene) Einstellungen müssen reichen, um seine steigende Affinität für das Milieu in Bilder zu kleiden. Und so reserviert sich die Inszenierung gibt, so spartanisch gestaltet sich auch die Gesprächskultur. Die Menschen sprechen nicht mehr als nötig miteinander, da unterscheidet sich ein Polizeirevier nicht großartig von homoerotischen Amüsierbetrieben. Eine Kommunikationsökonomie, eine Maulfaulheit, die auch andere große Thrillerregisseure der Siebziger Jahre wie John Carpenter und Walter Hill kultivierten. Man weiß nur nie ganz, ob Friedkin diesen Effekt wirklich haben wollte, oder ob alles nur am Final Cut liegt.
Es ist vielleicht das größte Drama dieses Projektes, dass seine Stärken und Schwächen fast nicht voneinander zu unterschieden sind. Atmosphäre schafft Friedkin vor allem dann, wenn er die Kamera durch die New Yorker Nacht und die Clubs streifen lässt. Verrauchte, vor Schweiß und Testosteron dampfende Lasterhöhlen, aus denen treibender, schnaubender Rock-Punk-Funk von den Cripples, Willy DeVille oder den Germs schallt. Ein wirklich beeindruckender Soundtrack. Zur Originalmusik stellte der zuständige Jack Nitzsche noch ein paar unheimlich wabernde Synthesizerteppiche und ein sinister dahintröpfelndes Gitarrenthema. Und es kommt wieder Friedkins Profession als Manipulator des Halbbewussten ins Spiel. Zusammen mit Nitzsche baute er tonähnliche Geräusche in den Film ein, die das Verstörende der Bilder verstärken. Auch die lauter als gewöhnlich aufgenommenen Geräusche, wie bspw. das Knirschen von Leder oder das Klappern von Handschellen, Indexzeichen dieser abstrusen Lebenswelt, wirken in ihrer Lautstärke fast aufdringlich und zielen direkt auf die subliminale Ebene. Daraus spinnt der
French Connection-Regisseur mitunter ungemein intensive und beklemmende Szenen. Fast enervierend wird diese Technik, wenn er in eben solcher Laustärke das Messer in die Rücken der Opfer fahren lässt.
Doch, wie gesagt: die Kehrseite der Medaille liegt offen auf dem Tisch. Friedkin ist auch ein Ausbeuter, der dieses Milieu recht kaltschnäuzig auf schrille und schrullige Schauwerte abgescannt und grell in Szene gesetzt hat. Und es lässt sich mit einer einfachen Umstellprobe beweisen: würde der Plot auch nur halb so interessant sein, wenn er nicht in dieser Lebenswelt stattfinden würde?
Hand auf´s Herz, die recht unspektakuläre Nummer ‚Cop sucht Mörder’ würde niemanden jucken, wenn es dabei nicht vermeintlich durchgeknallte Exoten mit Ganzkörperledermasken und Polizeiuniformen aus einem Village People-Ausverkauf zu bestaunen gäbe, die sich lasziv aneinander schmiegen, ablecken oder dem Fist Fucking fröhnen. Manchmal hängen Plakate mit Reichsadlern an der Wand. Wenn es Friedkin, so wie im Vorspann beteuert, nicht darum gegangen wäre, die Homosexuellen per se zu diskriminieren, dann hat er sich sehr viel Mühe gegeben, seine guten Absichten mit knalligen, morbiden Bildern zu bedecken.
Dabei wäre es nicht so, dass Schwule bei ihm ausschließlich in Kontexten der Exotik oder Abartigkeit existieren. Er zeigt mit Ted einen sensiblen jungen Mann, der sein Leben knapp außerhalb konventioneller Bahnen meistert. (Umso dümmer, dass er ihn zum Schluss in einer Blutlache enden lässt - wie eine kaputte Puppe, das Gesicht erinnert an David Bowies "Hunky Dory"-Cover.) Auch die Demütigung der Homosexuellen seitens der New Yorker Polizei fängt Friedkin ein. Doch hier funkt ihm wieder die Lakonie seiner eigenen Inszenierung dazwischen – und letztlich auch die Zurückhaltung seines Stars. Wenn Al Pacino den Kopf an die Tür gelehnt hat und Zeuge wird, wie seine raubeinigen Kollegen den (unschuldigen) Verdächtigen in die Mangel nehmen, ihn hart am Rande der Legalität beschimpfen und bedrohen, schlagen, dann weiß man nie: was denkt er sich da? Ist er empört und würde am liebsten dazwischen gehen? Oder ist er lediglich
zermürbt und will einfach nur ins Bett? Ist der Zuschauer auch empört? Oder denkt er: „Ha, der warme Bruder wird kalt gemacht, lustig lustig!“ Ob das, was Friedkin uns zeigt, wirklich Ablehnung wecken soll, oder einfach nur unkommentiert da ist, weiß man nie so richtig. Seine Bilder sind so spartanisch und offen, dass vieles möglich scheint. Und das ist die Crux mit mehrdeutiger Visualität: jeder Zuschauer kann, ganz nach Präferenz, eigene Haltungen auf das Gesehene projizieren.
Als ob das alles nicht schon Diskussionsstoff genug ergebe, wäre da noch die eingangs erwähnte Frage nach dem Mörder. Ein Versuch der Klärung, also alle aufgepasst und durchgeatmet, was jetzt kommt ist für die ganz Harten, die es wirklich wissen wollen: der Zuschauer wird Zeuge von drei Mordszenen. Der ersten im Hotel, der zweiten im nächtlichen Central Park, der dritten im Pornokino. Am Ende hat Pacino einen Mann gestellt, den schizophrenen Studenten Stuart Richards (Richard Cox), der einen Vaterkomplex mit sich herumschleppt. Aber das ist nicht der erste Mörder, den man sieht. Beim ersten Mord ist es der Schauspieler Larry Atlas, der seinen Sexualpartner, gespielt von Arnaldo Santana, ersticht. Im zweiten Mord ist der ursprüngliche Täter dann das Opfer von Stuart, der auch beim dritten Mal den Mörder spielt. In dieser dritten Sequenz wiederum erfährt Arnaldo Santana eine wundersame Auferstehung, er spielt hier zum zweiten Mal das Opfer, nur mit Vollbart.
Um die Verwirrung perfekt zu machen, ließ Friedkin die Schauspieler, die in der jeweiligen Mordszene den Mörder spielen, von einem anderen Schauspieler synchronisieren, der niemals im Film auftaucht. Er spricht auch die Parts von Stuarts totem Vater, den sich dieser hin und wieder herbeiphantasiert. Zum Schluss lässt man Stuart in seiner letzten Einstellung sowohl mit seiner eigenen Stimme als mit eben jener Mörderstimme sprechen, im letzten Satz: „I never killed anyone.“ Es geht nur ein bisschen unter, da sich diese beiden Stimmen im Original nicht gerade unähnlich sind. Im Grunde fällt es einem bei nochmaligem Hinsehen wie Schuppen von den Augen, dass das Opfer in der zweiten Mordszene der Killer aus der ersten Szene ist, denn Atlas Gesichtszüge sind sehr markant. Man ist als Zuschauer aber derart in seinen Sehgewohnheiten verhaftet, dass einem die Konstellation ‚Killer wird von anderem Killer gekillt’ gar nicht erst in den Sinn kommt.
Wer sich nun fragt, wie das zusammenpassen soll, ist bestimmt nicht allein. Fest steht, dass Friedkin und die anderen Macher niemals einen bestimmten Täter präsentieren wollten. Was im Grunde eine schöne Idee ist. Doch dann ist dieses Verwirrspiel nicht konsequent durchgehalten. Im Grunde verfährt die Chronologie derart, dass hier ein Mörder von einem anderen Mörder erstochen wird. Warum Santana in der dritten Mordszene wieder auftaucht, bleibt Friedkins Geheimnis. Vielleicht wusste er selber nicht mehr so genau, was er wollte, obwohl
Cruising beileibe kein konzeptioneller Schnellschuss war. In Interviews äußerte er sich derart, dass die Täterfrage ungelöst bleiben soll. Wie gesagt, eine schaurig-schöne Idee, aber die Chronologie der Ereignisse ist eindeutig und wird lediglich von Arnaldo Santanas wundersamer (aber nur kurzweiliger) Auferstehung ins Zwielicht des Mysteriösen gerückt. Im selben Atemzug meint Friedkin aber auch, es solle die Idee vermittelt werden, dass es „immer einen Mörder gebe.“ Nun, das ist ihm so gesehen durchaus gelungen.
Denn, um noch einen draufzusetzen: zum Schluss liegt Ted ja blutüberströmt in der Toilette seiner Wohnung. Man kommt, irgendwie, automatisch auf die Idee, es könne vielleicht Al Pacino höchstpersönlich gewesen sein. Wir sehen im Laufe des Films, wie er sich in mindestens einer Szene nicht unter Kontrolle hat – und diese Szene kann man als Eifersuchtszänkerei um Ted interpretieren. Auch hier ist es nur eine Vermutung, nichts Handfestes. Denn wir sehen ansonst keine Anzeichen für eine sich anbahnende Beziehung zwischen ihm und Ted, aber wie wäre sonst diese Kampfszene mit seinem WG-Partner zu verstehen? Aber auch das wollte Friedkin erreichen.
Wenn Pacino in der letzten Szene nach getaner Arbeit vor dem Spiegel steht, während seine hübsche Frau Nancy (Karen Allen), die nichts von seinen Ermittlungen wissen durfte, seine Montur – Sonnenbrille, Fliegermütze, Lederjacke, Stiefel – ausprobiert, und wenn sich dann die Kamera wieder auf Pacinos Gesicht im Spiegel richtet, während das Stapfen von schweren Stiefeln immer näher kommt, dann trauen wir ihm eigentlich alles zu. Wir wissen zwar nichts, aber dieser Blick in den Abgrund kann viel bedeuten.
Die Frage nach der Identität des Menschen, wie mit ihr gespielt und wann sie zerstört und in etwas Neues, Erschreckendes transformiert werden kann, ist ein Leitmotiv dieses Films. All die Menschen, die sich Nacht für Nacht durch die Lusttempel der Stadt tanzen, balancieren ihre Identität sehr gekonnt aus. Sie gehen tagsüber ihren normalen Jobs im Moloch New York City nach, und nachts kann dann endlich gelebt, endlich ausgelebt werden, was sonst nur im Geheimen existieren darf. Ob aus Pacino tatsächlich ein Mörder geworden ist, ob er diesen Balanceakt nicht unbeschadet überstanden hat, kann man schlecht wissen. Man kann es höchstens fühlen, und das Fühlen, die diffuse Intuition ist vielleicht das einzige Wahrnehmungsinstrument, das bei
Cruising überhaupt funktioniert.
Und wer von der Rätselraterei noch nicht genug hat, kann auch über die beiden scheinbar so nichtigen Szenen nachdenken, in denen ein Mann, von Statur, Frisur und Kleidung den Mördern sehr ähnlich, eine nächtliche Straße überschreitet und eine Tür in einen Club öffnet. Es gibt sie zwei mal. Am Anfang, kurz bevor sich der Mörder sein erstes Opfer sucht. Und dann zum Schluss noch einmal, als der Täter schon gefasst scheint. Und der Zuschauer ahnt, dass es nicht vorbei sein kann. Was Friedkin rotzfrech-schmunzelnd dazu sagt? "Ich weiß gar nicht, wer da über die Straße geht." Mhm...
Wenn man bösartig genug wäre, könnte man diese ‚Es gibt immer einen Mörder’-Leitsatz in die bestehende Kritik aufnehmen. Dann gibt es in der Homo-SM-Szene nicht nur richtig durchgeknallte Perverse, sondern auch richtig durchgeknallte, perverse Mörder. Da stechen sie sich alle gegenseitig ab, diese Abartigen. Kein Wunder, oder?!
Man kann aber auch zur Abwechslung die Kirche im Dorf lassen. Friedkin selbst bemerkt: „Im Nachhinein realisiere ich, das „Cruising“ nicht unbedingt der beste Schritt im Kampf um die Akzeptanz der Heterosexuellen für homosexuelle Lebensstile war.“ Man glaubt ihm aber nicht mehr so ganz, wenn er beteuert: „Für mich war es nur der Hintergrund für einen Kriminalfilm. Punkt.“
Es bleiben also, mit gutem Willen, vier Sterne für einen beklemmend intensiven, atmospherischen, aber auch zwielichtigen und grenzwertigen Film - der sein schlechtes Image selbst zu verantworten hat.