Der inzwischen neunundsechzig Jahre alte Terry Gilliam war noch nie ein Verächter imposanter fantastischer Gesten. Ob er nun mit der damaligen Monty Python-Truppe im Vorfilm zu Der Sinn des Lebens (1983) ein ganzes Gebäude voller meuternder Angestellter auf die satirische Reise schickte, Johnny Depp in Fear and Loathing in Las Vegas (1998) die Dynamik einer rauschhaften Epoche bildgewaltig betrauern ließ, oder in Die Gebrüder Grimm (2005) die beiden Märchenikonen zu einfallsreichen Trickbetrügern uminterpretierte und in einen bizarren Gruselwald schickte: Das Image des Geschichtenerzählers und visuellen Visionärs wird Gilliam nicht mehr los. Das neueste Werk des Wahl-Briten ist da keine Ausnahme, hat aber im Vorfeld weniger durch inhaltliche Exzentrik, als viel mehr durch den tragischen Tod von Heath Ledger im Januar 2008 auf sich aufmerksam machen können. Dieser ereignete sich nämlich während die Dreharbeiten zu
Das Kabinett des Doktor Parnassus noch in vollem Gange waren. Einige Wochen stand das Projekt kurz vor dem Aus, ehe sich Gilliam von seinem Team dazu überreden ließ, den Film doch noch zu vollenden. Und so ist es dann auch nur einer raffinierten Idee zu verdanken, dass Heath Ledger ziemlich genau zwei Jahre später noch einmal auf der großen Leinwand bewundert werden kann.
Wo auch immer der tausendjährige Magier Dr. Parnassus im London des aktuellen Jahrtausends auftaucht: Für die nostalgisch-charmante Varieté-Vorführung rund u
m einen Spiegel, durch den man in die eigenen Vorstellungswelten treten kann, interessiert sich in Zeiten von High-Tech-Attraktionen kein Mensch mehr. Und so gestalten sich auch die Finanzen der illustren Truppe nicht gerade rosig. Zwischen menschenleeren Aufführungen und alkoholbedingten Abstürzen taucht jedoch eines Tages Mr. Nick – der leibhaftige Teufel – bei Dr. Parnassus auf und erinnert ihn daran, dass dieser ihm vor vielen Jahren seine ungeborene Tochter versprochen hatte, sobald diese ihr sechzehntes Lebensjahr erreichen würde. Um seine Valentina vor den Händen des abgebrühten Beelzebubs zu bewahren, geht Dr. Parnassus eine kurzfristige Wette ein: Innerhalb von drei Tagen sollen beide jeweils fünf Seelen sammeln. Wem dies als erstes gelingt, dem soll Valentina gehören. Etwa zeitgleich rettet die Truppe einem Mann das Leben, der leblos von einer Brücke baumelt. Dieser entpuppt sich dann auch trotz Gedächtnisverlust als Naturtalent im Kundenfang und auch Valentina beginnt sich in den charismatischen Tony zu vergucken…
Gilliams modernes Märchen rund um fantastische Innenlandschaften, sezierte Identitäten und die Macht der Illusionen ist temporeich, bunt und ironisch charmant. Dabei wildert der Brite, wie auch schon in Die Gebrüder Grimm, in der Ikonografie des Märchens und der Mythologien ebenso wie in den großen religiösen Metaerzählungen, fängt diese aber in einer selbstbewusst popkulturellen Betrachtung auf. Schon die anachronistische Anmut der holprigen Varieté-Kutsche mit ihren mythischen Insignien ist mehr eine augenzwinkernde Auseinandersetzung mit der Patchwork-Kultur und weniger das offenkundige Betrauern des Verlusts traditioneller Identitätsbilder. Parnassus ist ein versoffener, desillusionierter Greis, dem längst jegliche visionäre Kraft abhanden gekommen ist und der, sei es nicht um seiner Tochter Valentina Willen, die aber auch von einem gänzlich unspektakulären Leben aus der Wohnzeitschrift träumt, keinerlei Interesse an der Welt zeigt. Das wilde Leben der Schausteller wird als gänzlich unromantisch entkleidet. Zwischendurch rastet die Truppe zwischen Backsteinruinen und verlassenen Wohnwägen - das Höchste der kulinarischen Gefühle ist ein gerupftes Huhn. Selbst wenn man Gilliams Geschichte autobiografisch als den vergeblichen Kampf gegen die Windmühlen der Unterhaltungsindustrie liest, kommt man nicht umhin zu bemerken, wie ironisch-souverän die Umsetzung in deren eigener Stilistik erfolgt. Pathos sucht man jedenfalls vergeblich.
Ebenso stellt sich dann auch die Reise ins Kernstück der Geschichte dar: Die Universen jenseits des Spiegels sind keine Oasen der Träumerei und Authentizität, sondern zerlegen sukzessive die moderne Lebensikonografie in ihre Bestandteile. Der Zuschauer findet sich nicht in einer besseren Welt wieder, sondern muss miterleben, wie ekstatisch die einzelnen Besucher von Parnassus' Welt den Imaginationen von Glitzer, Pomp und den damit verknüpften Phantasmagorien verfallen. Visuell ist dort alles überwältigend und berauschend. Die Katharsis der Reisen endet dann nicht im wahren Ich, sondern in indifferenten Abziehbildern. Auf derselben Ebene gelingt es Gilliam und seinem Drehbuch-Co-Autor McKeown dann, den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse als ironisches Spiel mit Identitätsbausteinen in den Fantasiewelten zu spiegeln. Die beiden Widersacher selbst sind aber längst ihren archetypischen Bildern entwachsen. Als Glück im Unglück stellt sich in dieser Hinsicht die dreifaltige Besetzung des verstorbenen Ledger - dessen Szenen in der realen Welt zu diesem Zeitpunkt bereits abgedreht waren - durch die kurzfristig eingesprungenen Depp, Law und Farrell heraus: Die hier angesprochene Lesart gewinnt nämlich vor allem durch die verschiedenen Gesichter noch einmal deutlich an symbolischer Tragkraft.
Dreh und Angelpunkt ist neben dem Zauberspiegel die Figur des Tony, die als identitätslose Schachfigur ohne Geschichte in die Wette zwischen Mr. Nick und Parnassus geworfen wird. Heath Ledgers (Zehn Dinge die ich an dir hasse, Ritter aus Leidenschaft) Darstellung zehrt dabei sichtlich von seinem kreativen Höhenflug der Verkörperung des Jokers in Nolans
The Dark Knight und es wird schmerzhaft klar, dass mit ihm ein Schauspieler die Bühne verlassen hat, der gerade erst sein schauspielerisches Charisma voll zu nutzen gelernt hat. Christopher Plummer (Twelve Monkeys, Syriana) hingegen mimt den Dr. Parnassus als eine gebrochene Figur, die durch ihre Unsterblichkeit deutlich gezeichnet ist. Tom Waits (Bram Stoker's Dracula) drückt Parnassus' Gegenspieler Mr. Nick einen deutlich eigenwilligeren Stempel auf: Seine Darstellung des Teufels ist, wie nicht anders zu erwarten war, grandios selbstironisch. Doch auch der Rest des Ensembles schlägt sich mehr als tapfer. Andrew Gardfield (Boy A) als Anton schafft es trotz ungehemmt aufspielendem Ledger ein darstellerisches Gegengewicht zu etablieren, das den Konflikt der beiden deutlich mit Glaubwürdigkeit anreichert. Die bisher nur als Model arbeitende Lily Cole punktet hingegen mit einer lasziven Erotik, die immer wieder an Christina Ricci erinnert, was durchaus als großes Kompliment verstanden werden darf. Nicht unerwähnt bleiben darf natürlich Verne Troyer (Austin Powers), der seine Rolle als minderwüchsiges Varieté-Mitglied mit mehr als einem Augenzwinkern spielt und der eine letzte Bastion der Bodenständigkeit für den abgedrifteten Parnassus darstellt.
Im Aufbau ist Gilliam sein Film dann an vielen Stellen – wie auch schon die Gebrüder Grimm - etwas zu fahrig geraten. Von diesem Manko sieht man aber spätestens in der zweiten Hälfte ab, denn die Seelenjagd gestaltet sich stringenter, ist temporeich und deutlich flüssiger inszeniert. Was immer wieder störend ins Auge sticht, sind die manchmal frappierend billig wirkenden CGI-Effekte, die an passender Stelle die surrealen Welten sicher intentional noch einmal einen Zacken künstlicher und damit bizarrer wirken lassen, generell aber nicht State-of-the-Art sind. Diesem Manko verzeiht man aber gerne, da die Szenarien hinter dem Spiegel konzeptionell durchgehend beeindruckend und bis in den letzten Pixel symbolisch aufgeladen sind.
Gilliam ist mit
Das Kabinett des Doktor Parnassus ein skurriles Pop-Märchen gelungen, das durch seine ironisch gebrochenen Symboliken auch als solches gelesen werden sollte. Zwar trägt die Geschichte bis zu ihrem Ende einen resignativen Unterton, der aber durch eine rasante Performanz des Ensembles und allerlei verquerer Einfälle niemals in puren Pathos abgleitet. Der anarchische Charme könnte für manch einen Zuschauer etwas zu viel des Guten sein. Wer sich allerdings auf die bizarre Welt des Magiers einlässt, wird mit intelligentem Kino zwischen Popkultur und Philosophie belohnt. Diesbezüglich kann man selbstbewusst von Gilliams reifstem Film sprechen.