Eines der schrecklichsten Dinge, die einer Familie passieren können, ist der gewaltsame Verlust eines Mitgliedes. Wenn jemand unerwartet gehen muss, ist die Trauer für Außenstehende wahrscheinlich kaum zu beschreiben.
Terry George thematisiert in seinem Film „Ein einziger Augenblick“ (OT: „Reservation Road“) diese Situation und leuchtet alle erdenklichen Folgen eines derartigen Zwischenfalls aus.
Stress und Zeitdruck wegen seiner Ex-Frau (Mira Sorvino) und Angst um die Distanz zu seinem Sohn lassen den geschiedenen Anwalt Dwight (Mark Ruffalo) nach einem unerwartet langen Baseballspiel etwas schneller fahren als erlaubt. Die Zeit sitzt ihm im Nacken, seine Ex-Frau könnte die Besuchszeiten streichen und sie ruft alle 10 Minuten an, was ihn zusätzlich ablenkt. Zur gleichen Zeit fährt Familienvater Ethan (Joaquin Phoenix) mit Frau Grace (Jennifer Connelly) und seinen beiden Kindern nach einem Cellokonzert von Sohn Josh an eine Tankstelle an der Reservation Road, die Tochter bat, auf Toilette gehen zu dürfen. Während Ethan Scheibenputzmittel kaufen geht, möchte Josh die zuvor gefangenen Glühwürmchen freilassen und stellt sich dazu an den Straßenrand. Dwight befindet sich auf dem Weg, um seinen Sohn bei seiner Mutter abzuliefern, ebenfalls auf der Reservation Road, fährt immer noch zu schnell, wird erneut durch einen Anruf seiner Ex-Frau abgelenkt und gerät versehentlich auf die entgegen gesetzte Fahrbahn. Ein Unfall bahnt sich an, doch reaktion
sschnell kann Dwight ausweichen, schlittert mit vollem Tempo auf den Straßenrand zu und erfasst mit seinem Wagen den kleinen Josh. Nach kurzem Zweifel fährt er weiter, ohne anzuhalten oder nachzusehen – und begeht damit Fahrerflucht. Für die trauernden Eltern des Jungen bricht eine Welt zusammen. Während aber Mutter Grace versucht, mit dem Verlust klarzukommen, keimen in Vater Ethan Zorn, Hass und der Wunsch, dem „Mörder“ eine gerechte Strafe zu erteilen. Dwight hingegen zerbricht an seinen eigenen Vorwürfen. Zwangsläufig kommt es zu dem Moment, in dem sich beide treffen…
Die auffälligste und sich geradezu anbietende Masche des Films ist die Gegenüberstellung der beiden Seiten. Abwechselnd zeigt man uns immer wieder die von Trauer geplagte Familie und den von Selbstvorwürfen zerfressenen Dwight. Das wäre alles sehr einseitig, wenn nicht A-Klasse-Schauspieler wie Phoenix und Connelly am Werk wären, die hier kräftig vom ebenfalls überzeugenden Ruffalo unterstützt werden. Wirklich komplexe Rollen haben allerdings nur die beiden Hauptakteure, die anderen Figuren, wie die von Dwights Ex-Frau oder auch Grace, sind eher ziemlich festgelegt und scheinen nur Mittel zum Zweck zu sein. Ethan ist ein hervorragend gestalteter Charakter, ein Familienvater, der durch einen großen Verlust nicht nur nicht mit seiner Trauer umgehen kann, sondern auch den Glauben in das Gesetz verliert und durch diverse Einflüsse beginnt, in der Selbstjustiz Gerechtigkeit zu sehen. Seine Transformation, die schrittweise durch die verschiedenen Einflüsse, wie ähnlich denkende Internetbekanntschaften, vonstatten geht, wurde sehr sensibel gestaltet, denn es handelt sich beim ihm weder um eine reißende Bestie, die nur noch nach Blut verlangt, noch um einen weichgespülten Pazifisten, der jeglicher Gewalt entsagt. Somit merkt man, wie es in ihm brodelt, der wild wuchernde Bart im Gesicht unterstützt dies auch optisch.
Ihm gegenüber steht die Figur des Dwight, ein aalglatter Anwalt, ganz plakativ gegensätzlich dargestellt durch den fehlenden Bart. Als Anwalt weiß Dwight natürlich, dass das, was er getan hat, falsch war, doch er hielt nicht an, um seinen Sohn halbwegs pünktlich abzuliefern. Somit dachte er in der Situation vorrangig an sich selbst, was ihm gleich zu Beginn eine gehörige Ladung Antipathie einbringt. Auch bei seinem Folgeverhalten in den nächsten Tagen und Wochen dauerte es lange, bis er sich selbst davon überzeugen kann, sich der Polizei zu stellen.
Durch die Verteilung der Rollen lotet der Film klug sämtliche Möglichkeiten aus, die sich aus der Situation ergeben, seien sie gut oder eher schlecht. So ist Ethans Ehefrau Grace gewillt, mit dem Verlust klarzukommen und repräsentiert somit die Idealreaktion, die der (amerikanische?) Bürger in einer solchen Situation zeigen sollte. Dass Ethan als trauernder Vater kurz vorm Durchdrehen ist, die Gerechtigkeit durch das Gesetz nicht ansprechend vertreten sieht und sie demnach durch Selbstjustiz herbeiführen will, beleuchtet das andere Extrem, welches in der Öffentlichkeit immer wieder auf Kritikansätze stößt und zu Kontroversen führt. Schließlich hat jeder zu diesem Thema eine Meinung. Rufallos Figur Dwight vereint gleich mehrere gedankliche Prototypen des menschlichen Schuldbewusstseins in einer Person. Seine Unentschlossenheit bezüglich der freiwilligen Schuldbekennung dürfte jedem in dieser Situation widerfahren. Auch, dass er zunächst lügt und versucht, nicht in den Strudel der Ermittlungen, geschweige denn in Verdacht, zu geraten stellt wohl natürliches menschliches Kurzschlussverhalten dar, zurückzuführen wahrscheinlich auf den natürlichen Trieb der Selbsterhaltung.
Die kleine Schwester des toten Jungen stellt in diesem Fall die kindliche Unschuld dar; sie trauert zwar, aber eigentlich ist das Ganze für ein kleines Kind, dass nur ein sehr eindimensionales Verständnis von Leben und Tod besitzt, viel zu viel, um es richtig fassen zu können. Um immer bei dem Gegenstand des Films zu bleiben, steht sie weiterhin für das Kindliche, das auch der tote Josh repräsentierte und das über die komplette Laufzeit nicht in etwaige Vergessenheit geraten soll.
Über einen Großteil der Laufzeit serviert der Film inszenatorisch gesehen Altbekanntes, zu bemängeln ist aber, dass oft durch das sehr abgenutzte und gewollt wirkende Mittel des Großgesichts-Close-Ups versucht wird, emotionale Tiefe zu erzeugen. Das mag hin und wieder bei Phoenix’ Figur klappen, aber im Endeffekt blickt ein Mark Ruffalo doch ein paar Mal zu häufig bedrückt in die drei Millimeter von seiner Nase entfernte Kamera.
Sämtliche Schlussfolgerungen, die sich aus Handlungsweisen und Szenenabläufen ergeben, werden vorgekaut präsentiert oder kurz darauf offenbart, sodass dem Zuschauer wenig Raum für eigene Interpretationen bleibt. Von Vorteil ist dies allerdings für die eigene Meinungsbildung. Über die komplette Laufzeit evoziert der Streifen nicht zuletzt durch die Dialoge die Fragen der Zuschauer an sich selbst: Wie würde ich handeln? Hätte ich das genauso gemacht? Auch werten darf der Kinogänger: Macht er das gerade richtig? Ist das moralisch vertretbar?
Im Endeffekt verwischt durch diese simplen Kniffe die vorherrschende Schwarz/Weiß-Malerei und am Ende, wenn es zur zwangläufigen Konfrontation kommt, steht man höchstwahrscheinlich nicht (mehr) auf einer der beiden Seiten, sondern wartet einfach nur gespannt darauf, was passiert. Im Showdown liegen dann sämtliche Nerven blank, die Charaktere sind gefühlsmäßig nackt bis auf die Knochen, sie haben nichts Geheimes mehr – es zählt nur noch, wie die Sache ausgeht. Und das mag dann jeder einschätzen, wie es ihm beliebt. Fest steht, es siegt die Vernunft.
Kurz nach dem Finale bietet die Inszenierung dann die erste richtige interaktive Möglichkeit für den Zuschauer. Aus dem Gesehenen muss er resultieren, was nun tatsächlich passiert ist. Dies ist zwar wirklich nicht schwer, steigert aber den Nachdenklichkeitsfaktor Sekunden vor dem Abspann noch einmal enorm.
Insgesamt also hat man es bei „Ein einziger Augenblick“ mit einem sehr sehenswerten, gut gespielten Drama zu tun, das zwar inszenatorische Finessen vermissen lässt und dadurch auch etwas an Emotionalität verliert, insgesamt aber ein wichtiger Beitrag zu den Themen Unfallopfer, Schuld, Sühne und Trauer ist, nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit des Filmverleihs Tobis mit der Organisation für Hilfe von Unfallopfern, die ergibt, dass 25 Cent jeder gelösten Kinokarte jenen Unfallopfern bzw. der Organisation zu Gute kommen – dieses Vorhaben ist allerdings nicht ganz konsequent umgesetzt, wenn man die geringe Kopienzahl betrachtet, mit der der Film in Deutschland anläuft. Ein übermäßig hoher Multiplikationsfaktor für die 25 Cent pro Karte wird im Endeffekt jedenfalls nicht dabei herauskommen.