Es war einmal…
… ein volkstümlicher Märchenschatz, der von zwei gewissenhaften Sprachwissenschaftlern dokumentiert und für die Nachwelt niedergeschrieben wurde. Doch die beiden Brüder hielten die Geschichten nicht genauso fest, wie sie sie gehört hatten, sondern schrieben sie um, und so wurden aus düsteren Erzählungen voller Mord, Intrigen und Räubereien harmlose Märchen, die sich im Laufe der Zeit zu Klassikern der Literaturgeschichte entwickelten. Heute ein Muss in jedem Kinderzimmer sind die Erzählungen der Gebrüder Grimm noch immer ein ideenreicher Zeitvertreib, der nicht nur die Phantasie der Kinder anregt, sondern auch als Vorlage für so manchen Hollywood-Film dient, wobei immer öfter jene dunkle Seite der Märchen hervorscheint, die vor langer Zeit so sorgsam versteckt wurde. So düster wie in Michael Cohns
Schneewittchen-Version geht es in der kunterbunten Verfilmung von
Tarsem Singh zwar nicht zu, doch ein Kinderfilm ist
"SPIEGLEIN SPIEGLEIN" auch nicht geworden:
Schon wenn ein einst strahlendes Königreich in Trübsal, Verzweiflung und Dunkelheit versinkt, liegt eindeutig irgendetwas im Argen. Doch wenn zur gleichen Zeit im Palast auch noch rauschende Feste gefeiert werden und die Königin ein Vermögen für pompöse Kleider ausgibt, obwohl die Staatskassen so leer sind wie ihr gefühlskaltes Herz, dann wird es wirklich ganz übel. In unse
rem Fall fühlt sich die stolze Regentin weder für das Leid ihrer Untertanen im Geringsten verantwortlich, noch lässt sie auch nur den kleinsten Zweifel an ihrer Herrschaft aufkommen. Nur eine schafft es, ihre rosarote Weltsicht zu erschüttern: Schneewittchen, die ungeliebte Stieftochter, die nach dem mysteriösen Verschwinden des Königs zu einer Last für die nun alleinige Herrscherin geworden ist. Als das schöne Mädchen schließlich auch noch zur Rivalin im Kampf um die Gunst des stattlichen Prinz mutiert, dessen Mitgift die finanziellen Schwierigkeiten des Königreiches lösen könnte, wird es Zeit für eine endgültige Entscheidung.
Schneewittchen muss sterben, beschließt ihre rachsüchtige Stiefmutter, doch der für den Auftrag Auserwählte bringt es nicht übers Herz, das Mädchen zu ermorden. Stattdessen rät er ihr, so weit zu laufen, wie sie nur kann, und so findet sich Schneewittchen mutterseelenallein im winterlichen Wald wieder. Moment – allein? Nein! Da sind ja noch die Zwerge, die diese dunkle Gegend ihr Heim nennen und sich hauptberuflich als Wegelagerer und Strauchdiebe betätigen. Und außerdem lauert irgendwo in den Tiefen der Wälder etwas Unaussprechliches, von dem selbst die Tapfersten im Reich nur flüsternd zu sprechen wagen…
Doch mit diesem monströsen Etwas wollen wir uns an dieser Stelle nicht ausführlich beschäftigen, denn es gehört nicht gerade zu den Highlights des Films. Zum einen wirkt es zwar gut, solange es nur als furchteinflößendes Mysterium, nicht aber tatsächlich in Erscheinung tritt, doch mit nur ein wenig Überblick über die nicht allzu komplizierte Geschichte hat man den hiermit verbundenen, wenig sorgsam verborgenen Clou schon früh enttarnt. Zum anderen ist dies eines von zwei Elementen, die nicht so recht in das große Finale passen wollen und eher wie ein Fremdkörper in einem sonst runden Ganzen wirken. Eines von zweien? Ja, denn dies trifft leider auch auf die Bollywood-Musik-Nummer zu, welche den Abspann einläutet. Sie ist zwar schön anzusehen (und sofern man diesen für unsere Ohren immer noch etwas fremdartigen Klängen etwas abgewöhnen kann auch schön anzuhören), der richtige Abschluss für diesen Film ist sie aber nicht. Doch da man mit einem kurzen Blick auf die Stabliste den Ursprung dieser Idee schnell ermitteln kann, sei sie als nette Spielerei gestattet, zumal sie ja nicht mitten in der Geschichte auftaucht und so keine Lücke in die sonst stringente Inszenierung reißen kann.
Widmen wir uns also nun dem, was Tarsem Singhs
"SPIEGLEIN SPIEGLEIN" zu einem absurderweise ebenso kunterbunten wie rabenschwarzen Filmerlebnis macht, und schauen dabei zuerst auf letztere Komponente. Für die sorgt märchentypisch vor allem die böse Königin, dieses Mal grandios zum Leben erweckt von einer hinreißend arroganten
Julia Roberts ("Pretty Woman"), welche jede einzelne der vor wunderbarstem Sarkasmus nur so strotzenden Zeilen genau auf dem Punkt abliefert. Neben ihr wirkt selbst die Schönste im Land, hier verkörpert von
Lily Collins ("Atemlos – Gefährliche Wahrheit"), zumindest zu Beginn ein wenig blass, obwohl der Film ja eigentlich „die wirklich wahre Geschichte von Schneewittchen“ erzählen will. Doch während großer Strecken bestimmt tatsächlich Julia Roberts den Tenor ganz entscheidend. Sie spielt eine Frau, die so sehr von sich selbst überzeugt ist, wie nur möglich, und das auch dann noch dann, wenn sie für den Zuschauer eigentlich zur unfreiwilligen Lachnummer wird. So ist sie nicht einfach nur die verachtenswerte, mordlüsterne Herrscherin, die wir sonst aus der volkstümlichen Vorlage kennen, sondern gibt dieser Figur eine ganz neue Note und macht aus dem Film eine als Märchen getarnte schwarze Komödie, die zwar zum Teil recht albern, doch nie überzogen daherkommt.
Eintönig wird es aber dennoch nicht, dafür sorgt allein die opulente und farbenfrohe Ausstattung. Gerade die Palastszenerien erinnern an die aufwendigen Historien-Epen der klassischen Hollywood-Ära und bergen zugleich eine seltsame Ähnlichkeit mit den immer noch beliebten Märchenproduktionen aus dem Hause DEFA. Ein besonderes Augenmerk in der Ausgestaltung der Bildwelt legte man offenkundig auf die Kostüme, die an dieser Stelle einmal höchst lobende Erwähnung finden sollen. Sie stammen von der japanischen Designerin
Eiko Ishioka, die für
"SPIEGLEIN SPIEGLEIN" leider ihr letztes Werk ablieferte – Sie verstarb im Januar 2012. Die Oscar-Preisträgerin ("
Bram Stoker's Dracula") arbeitete mit Tarsem Singh an jedem seiner Filme und erschuf auch für dessen neuesten Streich wahre Meisterwerke. Ihre aufwendigen, phantasievoll gestalteten Kostüme, die sowohl historische Elemente aus verschiedenen Epochen der Modegeschichte zitieren als auch höchst moderne Ansätze einbinden, sprechen eine eigene Sprache und sind maßgeblich für den Look des Films mitverantwortlich.
Ebendieser trägt zudem in verschiedenen Einstellungen die eindeutige Handschrift des Regisseurs, insbesondere die Szenen vor beziehungsweise im magischen Spiegel der Königin erinnern an die absurde Traumwelt aus "The Cell", wirken jedoch weniger bedrohlich als diese. So konnte Singh dem altbekannten Märchen seinen eigenen Stempel aufdrücken und liefert mit
"SPIEGLEIN SPIEGLEIN – DIE WIRKLICH WAHRE GESCHICHTE VON SCHNEEWITTCHEN" eine prachtvolle Variante einer in die Jahre gekommenen Erzählung ab, die hier gehörig entstaubt und vor allem als Fest für die Augen aufbereitet wurde. Obwohl der Film mit der ursprünglichen Geschichte recht frei umgeht, einzelne Elemente mit einem überdeutlichen Augenzwinkern kommentiert und weder sich selbst noch die Vorlage allzu ernst nimmt, ist mit ihm nichtsdestotrotz eine mit Liebe zum Detail gestaltete Hommage an die uns wohl bekannte Erzählung gelungen, die beweist, dass Märchen längst nicht aus der Mode gekommen sind und auch nach Jahrhunderten noch überraschen können.