von Asokan Nirmalarajah
Wenn sogar die euphorischsten Befürworter des kontrovers diskutierten japanischen Regisseurs Takashi Miike nicht umhin können, auf die Massenuntauglichkeit seiner Filme zu verweisen, bedarf es wohl keiner Antwort auf die Frage, ob der notorische Vielfilmer mit seinen so grellen wie bedächtigen Regiearbeiten sein Publikum zu schockieren weiß. Denn auch wenn der im asiatischen Kino hinreichend bewanderte Zuschauer es gewohnt ist, neben Blut auch viele andere, unendlich anstößigere Körperflüssigkeiten auf der beleibe nicht mehr sauberen Leinwand fließen zu sehen, so weiß Miike sogar jeden noch so abgefeimten Cineasten zu verstören. Dass die an Ekelfaktor, Tabubrüchen und aberwitzigem Wahnsinn kaum mehr zu überbietenden Filme von Miike aber dennoch (oder gerade deshalb) in manchen Kritikerkreisen als wertvolle Filmkunst gehandelt werden, liegt an dem psychologisch präzisen Blick, den das
enfant terrible auf seine Figuren wirft, die trotz aller absurder Handlungen dennoch irgendwo vertraut wirken und trotz ihrer absurden bis schockierenden Schicksale beständig zur direkten Identifikation einladen. Während Miikes streitbar bester, aber sicherlich populärster Film
Audition (1999) stets herangezogen wird, um Unwissende in Miikes betörende wie abstoßende Filmwelten einzuführen, bietet sic
h seine fulminantere, kurzweiligere, da nicht so prätentiöse und nicht unnötig ausufernde Fingerübung
Visitor Q (2001) eher an, um Miikes speziellen Sinn für Humor, seine filmische Virtuosität und seinen methodischen Wahnsinn kennen und schätzen zu lernen.
Die Welle der Tabubrüche, die durch den ganzen Film immer höher schwappt, beginnt gleich mit den ersten Schriftzeilen, die im Bild erscheinen: “Have you ever done it with your Dad?” Die Geschichte des sehr ambitionierten Dokumentarfilmers und deprimierten Familienvaters Kiyoshi Yamazaki (Kenichi Endo) und seiner sehr dysfunktionalen Familie, wird in den noch scheinbar unzusammenhängenden ersten Minuten des Films durch zwei weitere Schrifttafeln unterbrochen: “Have you ever been hit on the head?“ und “Have you ever hit your mum?” Was genau in den Szenen passiert, die auf diese provokanten bzw. absurden Fragen folgen, muss man schon gesehen haben, um es zu glauben. Wie auch der weitere Handlungsverlauf, stecken diese Szenen voller Überraschungen und vermögen Komik, Tragik und Ekel so virtuos zu mischen, daß man amüsiert wie irritiert ist
Die Handlung selbst aber lässt sich als eine Version von Pier Paolo Pasolinis
Teorema (1968) lesen: ein Fremder, in Miikes Film die Titelfigur Q (Kazushi Watanabe), nistet sich in einer Familie ein und verändert durch seine irritierende Präsenz und sein wissendes Handeln die Weltsicht aller Familienmitglieder. Um aber dem irrsinnig geschmacklosen, schwarzen Humor Miikes gerecht zu werden, würde sich jedoch anbieten, seine schwarze Komödie als eine Variante der Disney-Produktion
Mary Poppins (1964) zu lesen: der Besucher vermag nämlich hier wie dort eine auseinanderklaffende Familieneinheit wieder zusammenzuführen. Natürlich gab es in dem Kinderfilm von einst keinen introvertierten Sohn, der die Wut auf seine hänselnden Mitschüler in Form von Schlägen regelmäßig an seiner Mutter auslässt. Und wohl auch keine Tochter, die so von ihrem Vater entfremdet ist, dass sie als Dirne arbeitet und ihn als Klienten erträgt. Und womöglich auch keine Mutter, die sich Heroin spritzt, und auch als Prostituierte arbeitet, um sich ihre Drogen zu finanzieren. Aber klare strukturelle Parallelen liegen in der Tat vor.
Nachdem das schockierende Ausmaß der Dysfunktionalität in dieser Familie einmal etabliert ist, fährt der mysteriöse Gast fort, seine Medizin ganz unversüßt zu verabreichen. Die Art und Weise seines Vorgehens ist dergestalt, dass eine bloße Beschreibung ihr nicht gerecht werden kann. Miikes Film muss wirklich gesehen werden, um zu verstehen, wie viele Tabus er bricht, um letztlich eine recht berührende Geschichte über verstörte Familienmitglieder zu erzählen, die gegen Ende wieder in ihre angestammten und damit recht konservativen Rollen finden: der Vater überwindet seine diversen Inkompetenzen, die Mutter kann wieder für ihre Familie sorgen, die Tochter kehrt zurück in ihr Kinderzimmer, der Sohn nimmt sein Studium wieder beherzt auf. Dass diese Familie dabei freilich über Leichen geht, wird dabei fast zu einer strukturellen Notwendigkeit erklärt.
Auf den zweiten Blick, sobald sich das Schockpotential abgenutzt hat, mag
Visitor Q wohl nicht mehr so zu „verzaubern“, da er sich jenseits aller Form als eine eher oberflächliche Kritik an der moralisch rapide dahin siechenden Jugend Japans versteht – was auch das Thema des Dokumentarfilms ist, das Yamazaki versucht zu drehen, indem er seinen eigenen mißratenen Sohn und sich selbst als ineffektive Autoritätsfigur in das Zentrum seines Films stellen will – und die Sucht nach Reality-TV anprangert, dem Verlangen nach Authentizität in Medien, die es immer nur indirekt vermitteln können. Erst als der Vater seine Kamera endlich beiseite legt, und für seine Familie zu kämpfen beginnt, findet er zurück zu seiner verlorenen Männlichkeit und seiner vormals gestörten Identität. Gedreht im verwackelten und groben Digitalvideo-Format, da zumeist aus der Perspektive des ständig filmenden Vaters erzählt wird, und entsprechend nicht immer optisch angenehm, vermag Miikes Film doch sonderbar zu berühren, wenn auch der Weg zum harmonischen Schlussbild gepflastert ist von allen Arten von Körpersäften (Blut, Sperma, Muttermilch) und Perversionen (Pädophilie, Inzest, Nekrophilie). Denn letztenendes, so propagiert der Film, zählt nur eine Sache: die Einheit der klassischen, nuklearen Familie.