Das Jahr 2001 war für den japanischen Regisseur Takashi Miike nicht nur einer seiner ertragreichsten Jahre infolge einer filmografischen Serie von im Inland sehr erfolgreichen und populären Filmen, angefangen mit Audition (1999), der auch über die japanischen Grenzen hinaus Anerkennung fand, über Dead or Alive (2000) und
Visitor Q (2001). Es war auch das Enstehungsjahr von Miikes berüchtigtstem und kontroversestem Film „Ichi The Killer“ (original: Koroshiya Ichi), nach der Manga-Vorlage von Hideo Yamamoto.
Inhaltlich dreht sich der Film um das Verschwinden von Yakuza-Gangsterboss Anjo, welches seinen treusten Gehilfen Kakihara (gespielt vom „japanischen Johnny Depp“ Tadanobu Asano, der mit gebleichten Haaren in schrillen Kleidern und einem rot-ledernen Trenchcoat total losgelöst und cool sich in Szene setzt) dazu veranlasst mit den extremsten Mitteln nach den Entführern oder gar vermeintlichen Mördern des von ihm verehrten Oberhaupts zu suchen.
Der Zuschauer ist zwar von Anfang an eingeweiht, dass Anjo von dem brutalen Auftragskiller Ichi (japanisch für „Die Nummer 1“) umgebracht wurde, kennt aber nicht die Motive des Mordes. Kakihara ist inzwischen in seiner Wut und Verzweiflung unberechenbar – Anjo konnte nämlich als Einziger seinen masochistischen und fetischen Gelüsten Befriedigung verschaffen und dessen Abwesenheit lässt Kakihara vom gefügig
en Masochisten zum unbarmherzigen und unberechenbaren Sadisten umschlagen. Er mischt nicht nur die rivalisierenden Yakuza-Kreise auf, sondern wütet auch in den eigenen Reihen. Bei dem blutigen Vorgehen sind seiner sadistischen Kreativität keine Grenzen gesetzt: zu Beginn eines Verhörs bricht er einer Drogendealerin mit einem Mal alle fünf Finger, lässt einen feindlichen Yakuza auf Fleischerhaken am Rücken aufhängen, foltert diesen dann mit Nadeln, die er ihm in die verschiedensten Partionen des Gesichts einsticht, um ihm zum Schluss einen Topf heißen Öls über den aufgespießten Rücken zu gießen und lässt schließlich einer Prostituierten, die den Aufenthaltsort von Anjos Mördern zu kennen scheint, mit einer Klinge die linke Brustwarze abschneiden… und das alles vollzieht Kakihara mit so viel Elan wie ein extrovertierter Komponisten sein selbst geschriebenes Werk auf der Premierevorstellung aufführen würde.
Obwohl Kakihara anfangs immer die Falschen für Anjos Tod verdächtigt und zur Verantwortung zieht, bekommt er durch Zufall einen an der Tötung von Anjo Beteiligten in die Finger. Von diesem presst er mit seinen bewährten Methoden heraus, dass sein Boss tot und dass sein Mörder der jugendliche Killer Ichi sei. Kakihara macht sich nun auf die Suche nach Ichi – sein Motiv ist nicht mehr Rache zu nehmen an dem Mörder, sondern für den Sadisten Anjo einen gleichwertigen Ersatz zu finden.
Ichi ist aber weiterhin in Begriff die Komplizen von Kakihara und damit praktisch die komplette Anjo-Gang auszulöschen. Dafür verkleidet er sich in einen schwarzen, ledernen Kampfanzug mit Polstern und einer Springklinge im linken Schuhabsatz, mit welcher er seine Gegner mit einem gezielten Tritt auf die verschiedensten Arten umbringen kann: ob Pulsadern aufschlitzen, Körperteile abschnippeln oder in zwei Hälften schneiden...Ichi entnimmt seine Inspirationen dem Beat’m Up Videospiel Tekken. Damit ist Ichi die Perversion eines klassischen Helden, der zu einem guten Zwecke die Mittel der Gewalt anwenden darf. Ichis Mittel sind extremste, brutale Gewalt – seine Ziele ist nicht die Befreiung der Welt von einer weiteren üblen Verbrecherbande, sondern die radikale, schrittweise Vernichtung einer Gangstervereinigung – in penibler Entsprechung der Vorgaben seines Vorgesetzten und Ersatzvaters Jijii.
Jijiis Motive bleiben bis zum Schluss unaufgelöst, dennoch wird klar, dass Jijii (gespielt von dem nicht minder bekannten japanischen Regisseur Shinya Tsukamoto) in jeder Situation die Fäden zieht.
Und spätestens hier wird deutlich, dass „Ichi The Killer“ weniger auf die narrativen Komponenten als auf die Motive der involvierten Charaktere Wert legt.
Miikes Hauptmotiv in seinem Film ist die Ausübung von Kontrolle in dem dichotomen Zusammenspiel von Sadismus und Masochismus. In der Figurenkonstellation gibt es immer einen, der die Kontrolle über einen anderen hat. Dabei sind die Kontrolle-Inhaber mit sadistischen und die Unterworfenen mit masochistischen Eigenschaften ausgestattet. Gewalt und Bedürfnisbefriedigung sind hierbei die Mittel der Machtausübung und Gewalt bildet somit den Mittelpunkt des Films.
Kakihara, der selbst seine masochistischen Bedürfnisse von Anjo befriedigt bekommen hat, übt in dem neu entstandenen Defizit die Herrschaftsgewalt mittels Folter und Schrecken in seinem Umfeld aus. Seine Schwäche ist sein Verlangen nach einem Beherrscher.
Ichi (Nao Omori), der von seinem Auftraggeber eine Gehirnwäsche verabreicht bekommen hat, ist nicht fähig, über jemand anderen Kontrolle auszuüben – sein Gedächtnis wurde so manipuliert, dass er denkt, er habe in der Kindheit der Vergewaltigung eines Mädchens aus seiner Klasse zugesehen, was ihn während des Akts sexuell erregt hat, und müsse nun, einerseits zur Bestrafung des Vergehens an dem Mädchen, andererseits zur Reinwaschung der eigenen sexuellen Erregung beim Zusehen der Vergewaltigung, die Sünder bestrafen – und zwar mit dem Tod. Ichi ist somit nicht fähig, über andere zu dominieren, sondern wird lediglich instrumentalisiert, mittels stumpfer Gewalt die Interessen seines Vorgesetzten zu erfüllen.
Im Grunde hat Ichi nicht einmal sich selbst unter Kontrolle. Als er in einer Szene eine Prostituierte von ihrem gewalttätigen Zuhälter befreit, kann er seine Zuneigung und sexuelles Begehren zu dem Mädchen nur in der Form ausdrücken, dass er ihr anbietet, sie nun selber zu vergewaltigen.
Sämtliche andere Charaktere, wie Kakiharas Freundin Sara oder Anjos Leibwächter und Expolizist Kaneko sind von ihrem übergestellten Anführer abhängig und somit grundlegend bereit sich zu fügen. Nur wenige schaffen es, der Bestimmung des Sich-Fügen-Müßens zu trotzen.
Da wäre Kakihara, der den Wandel vom Masochisten zum Sadisten paradoxerweise widerwillig vollzieht, weil er nach Anjos Verschwinden den höchsten Rang und folglich die ausgeprägteste Gewaltbereitschaft zur Schau stellen muss.
Doch wie auch immer Kakihara sich anstrengt, den wahren Drahtzieher hinter Anjos Ermordung ausfindig zu machen, kann er nie an Jijii herankommen. Denn Jijii ist zum einen durch seine Körperstatur unscheinbar, zum anderen unvergleichlich intelligent und flink und zum dritten benutzt er für seine Vorhaben Handlanger wie Ichi und bleibt dabei immer im Hintergrund.
Mit der Tatsache, dass Takashi Miike den Jijii-Charakter mit dem bekannten Regisseur Shinya Tsukamoto besetzt hat, will er auf ironische Art und Weise ausdrücken wie groß die Waltungsgewalt von beiden (Jijii und Miike) doch ist.
Der einzig andere Charakter, dem die Wandlung weg vom Sich-Fügen-Müssen gelingt, ist der 12 Jährige Sohn des Expolizisten - Takeshi. Er wird zu Beginn des Films noch von seinen Mitschülern auf Grund seines schwächlichen Körpers und seiner zurückhaltenden Art gedemütigt und geschlagen. Als aber Ichi zufällig in das Geschehen eingreift und einen der Prügler mit einem Sidekick meterweit wegkatapultiert, vollzieht sich in Takeshi ein Umbruch vom Gewalterdulden zur Bereitschaft, anderen - mit Ichi als Vorbild - Gewalt zuzufügen. Takeshi, der jüngste Charakter in der ganzen Geschichte, trägt zum Ende hin die entscheidenste Rolle des Films.
Auch den Zuschauer zieht Miike in den Kontrolle-Unterwerfungs-Zyklus hinein. In einem gewaltgeladenen Yakuza-Genrefilm wie „Ichi The Killer“ erwartet man neben Gewalt und Sex ein spannungsgeladenes, explosives Finale, in welchem sich die Hauptcharaktere in einem Duell gegenüberstehen. Und tatsächlich tritt der mit seinen Folter-Nadeln bewaffnete Kakihara dem Messerklingen schwingenden Ichi gegenüber. Doch das Finale erfüllt keinesfalls die gesteckten Erwartungen. Mit Absicht sabotiert Miike dieses Duell, um den Zuschauer total baff und verärgert zurückzulassen. Resigniert und enttäuscht stellt man fest, dass der Regisseur mit dem eigenen, von (westlichen) Filmstereotypen geprägten Verlangen nach einem krönenden Finale gespielt hat und dieses bewusst unerfüllt ließ. Machtlos ist der Zuschauer den Vorsätzen des Regisseurs erlegen.
Als abschließendes Fazit bleibt nur noch anzumerken, dass Miike mit „Ichi The Killer“ einer der wahnwitzigsten, gewalttätigsten, aber auch vielschichtigsten Filme in einer scheinbar unvereinbaren Genremischung von Drama, Splatter- und Yakuzafilm geschaffen hat.
In seiner expliziten Gewaltdarstellung hebt sich „Ichi The Killer“ von der sonst schon äußerst gewalttätigen asiatischen Filmkost deutlich ab und ist für uns westliche Zuschauer aufgrund seiner brutalen, dabei aber dennoch selbstironischen, sowie ausführlichen und hierbei dennoch suggestiven Folterdarstellungen kaum zuzutrauen.