"Attention! Ladies & Gentlemen ... you are about to witness a tragedy based upon actual events." Mit dieser Einblendung beginnt Firecracker von Steve Balderson, einer der ungewöhnlichsten Indiefilme der letzten Jahre. Diese Einblendung bereitet den Zuschauer absolut darauf vor, und ist in dem grundehrlich, dass er eine Tragödie sehen wird - und nichts anderes.
Wamego, Kansas, in den 50er Jahren: Jimmy lebt mit seiner Familie in einer kleinen Stadt, die typisch amerikanisch aussieht. Jimmys Vater ist jedoch nur noch körperlich anwesend und geistig weggetreten. Seine Mutter, Eleanor, ist eine streng religiöse Frau, jedoch nicht die Herrin im Haus. Diese Rolle hat Jimmys älterer Bruder übernommen, David. David führt die Familie mit harter Hand, vor allem gegen seinen Bruder wird er immer wieder gewalttätig. Jimmy selbst ist ein sensibler junger Mann, der sich sehr für Klavierspielen interessiert. Als eines Tages ein Karneval mit einer Freakshow in die Stadt kommt, eskaliert die Situation: Nachdem David sowohl gegenüber Jimmy als auch gegenüber der Sängerin und Freakin Sandra extrem gewaltätig wird, verschwindet dieser - gehasst von seinem Bruder, gesucht von den Verantwortlichen der Freakshow. Die weibliche Polizeichefin Ed und ihr Deputy nehmen die Ermittlungen auf...
Was sich wie ein recht normaler Kriminalfilm anhört, täuscht den Zuschauer in seinen Erwartung (so wie Täuschung ein zentrales Thema des Films ist). Es gibt zwar eine
Kriminalgeschichte, doch diese tritt in den Hintergrund um die Prämisse, die der Film zu Beginn mit dem Text gesetzt hat, einzulösen: es wird eine Tragödie. Der Film, produziert, gedreht, geschrieben und geschnitten von Steve Balderson entstand für ein lächerlich niedriges Budget von 350.000$, welches man dem Film aber zu keiner Sekunde ansieht. Man könnte fast soweit gehen, dass dem Film das niedrige Buget gut tat, da er wirklich mit Herzblut gemacht ist. Kommerziell ist der Film keineswegs, er wird vielen Zuschauern wahrscheinlich zu anders sein - und darin liegt seine Stärke. Sein Publikum wird ihn sich suchen und ihn lieben.
Firecracker zu beschreiben ist alles andere als einfach. Wenn man ihn mit anderen Filmen vergleichen möchte, fällt mir spontan folgender Vergleich ein: als hätte Richard Kelly (Donnie Darko) zusammen mit dem Effektteam von Pleasantville ein Drehbuch von David Lynch verfilmt, dass auf einer Idee von Alfred Hitchcock basiert. Firecracker ist sowohl Krimi als auch Tragödie, er ist Psychodrama und visuell atemberaubendes Mysterykino. Firecracker ist fantastisch!
Die Handlung kann man grob in zwei Stränge aufteilen, die nebeneinander verlaufen und sich ab und zu überschneiden: die Welt der Kleinstadt, somit die Welt von Jimmys Familie und den Ermittlungen von Ed. Demgegenüber steht die Welt von Sandra und den restlichen Freaks. Es gibt immer wieder Personen die zwischen den zwei Welten hin- und herspringen, doch die Grundmotive der Welten sind gleich. Sowohl Jimmy als auch Sandra erleben trotz der scheinbar normalen Oberfläche extreme Gewalt durch ihr Umfeld. Jimmy wird von David geschlagen und beschimpft, was in einem extremen Gewaltausbruch in Sandras Zelt kulminiert. Sandra wird von ihrem "Besitzer" Frank wie ein Stück Fleisch behandelt und geschlagen, nachdem er sie in der Vergangenheit aufs schlimmste missbraucht hat. Sowohl Frank als auch David werden interessanterweise vom selben Schauspieler, Mike Patton, gespielt. Und bei beiden Welten wird die Anfangsprämisse eingelöst: es ist eine Tragödie. Wo bei den "Freaks" (1932) von Todd Browning noch ein Ehrenkodex galt, herrscht bei Firecracker selbst in diesem Verband der Aussätzigen die Gewalt vor. Was die zwei Welten, also Stadt und Karneval, am offentsichtlichsten voneinander abgrenzt ist die visuelle Darstellung. Die Stadt wird in schwarz-weiss (s/w) dargestellt, alles wirkt recht trostlos. Man fühlt sich in die 50er Jahre hineinversetzt. Der Karneval jedoch ist eine schillernde Veranstaltung, in knallbunten und übersteuerten Farben dargestellt.
Die farbliche Gestaltung von Firecracker ist fast einzigartig. Über die Codierung davon könnte man wohl ganze Arbeiten verfassen. Prinzipiell muss man zwischen den zwei Welten unterscheiden. Die s/w-Welt wirkt nicht nur durch ihre nicht vorhandene Farbgebung recht trostlos, diese Trostlosigkeit spiegelt sich auch in den Kameraeinstellungen wieder. Die Kamera hier bewegt sich so gut wie nie, normalerweise filmt sie einen Raum ab und schon Kameraschwenks sind eine Seltenheit. All dies verdeutlicht die Traurigkeit, ja auch Biederheit, des Umfeldes in dem der sensible Jimmy leben muss. Im Kontrast dazu steht die grelle Welt des Karnevals. Die Farben übersteuern und werden teilweise zu Klecksen, es ist alles bunt und leuchtend. In dieser Welt bewegt sich die Kamera ständig, es gibt Kamerafahrten und -schwenks, auch die Schnittfrequenz steigt an. Auch Figuren die sich in diese Welt hineinbegeben, aus ihrem tristen Alltag flüchten, gewinnen an Farbe. Dies sorgt für wunderschöne Bilder, als beispielsweise der s/w Jimmy auf den leuchtenden Karneval zuläuft. Dementsprechend verlieren auch Karnevalsfiguren ihre Farbe, wenn sie sich in die Stadt begeben.
Doch Firecracker führt den Zuschauer an der Nase herum, greift das Grundmotiv der Täuschung wieder auf. Er macht es dem Zuschauer nicht so einfach, dass die bunte Karnevalswelt eine heile Welt ist, in die man sich flüchten kann um dem tristen Alltag zu entgehen. Auch unter dieser schillernden Oberfläche brodelt das Böse. Den Höhepunkt erreicht dies, ohne zu viel verraten zu wollen, wenn eine leutchtend grelles Rotkäppchen auf einer leuchtend grünen Wiese (ihre Komplementärfarbe!) zu Tode geprügelt wird - mit dem Leben weicht auch die Farbe aus dem Film. Und dies ist neben Täuschung ein weiteres Motiv, dass der Film behandelt: die lauernde Gewalt, die unter jeder noch so heilen Oberfläche lauert. Die s/w-Welt spiegelt das Amerika der 50er Jahre wieder, in der Familie und Religion noch einen Wert haben. Und doch zeigen sich erste Risse, in Form des geistig abwesenden Vaters, der Mutter die scheinbar immer mehr dem religiösen Wahn anheim fällt, der Bruder, der die Familie umsorgt aber immer gewalttätiger wird, sogar die freundliche Nachbarin die ihre Tochter zum spielen im Garten anleint und schliesslich die Aussätzige die vor der Stadt unter einem mit Flaschen behängten Baum wohnt - Figuren wie sie auch aus einem Film von David Lynch stammen könnten. Gerade die Figur der Aussätzigen ist sehr interessant. Manche Kritiker sehen in ihr die Jungfrau Maria. Ich für meinen Teil sehe (nach dem ersten Anschauen des Films) in ihr eher ein universelles Gewissen. Sie hilft bei der Aufklärung des Verschwindens von David, doch ihre Worte sind anklagender Natur. Eleanor sieht in ihr die Jungfrau Maria, sie wirkt jedoch wie die Nemesis der Stadt, als ob die Bewohner ihre Sünden und Probleme mit der jungen Frau zusammen aus der Stadt gebannt hätten. Etliche weitere Motive werden benutzt, so z.B. das Ödipus-Motiv. Nicht umsonst wird sowohl die Mutter als auch die laszive Sängerin Sandra von Karen Black gespielt. Und all diese Figuren sind für sich genommen schon Firecracker. Durch die andauernde Unterdückung und Gewalt wurde die Lunte angezündet, und es ist nur eine Frage der Zeit bis die traurigen Existenzen explodieren.
Durch diese extrem gelungene visuelle Darstellung vermag es Firecracker den Zuschauer von Anfang an zu fesseln. Der Film beginnt mit einer Kamerafahrt in s/w, die sich einem Garten mit Polizisten und Schaulustigen nähert. Menschen halten sich Mund und Nase zu, als mehrere Männer in dem Schuppen des Gartens etwas ausgraben. Durch die intensive Musikuntermalung wird der Zuschauer in den Bann gezogen, und als dann der Schnitt zu den Anfangscredits erfolgt, die vor einem farbigen brennenden Feuer abgespielt werden, hat der Film schon viele Zuschauer für sich eingenommen. Selten gab es im Indie Bereich einen gelungeneren Einstieg. Allgemein kann man sagen, dass jede einzelne Kameraeinstellung bis aufs letzte Detail gedacht und durchkomponiert wirkt. Ich hatte tatsächlich Probleme "nur" sechs Screenshots für diese Kritik zu suchen. Die Musik von Justin R. Durban unterstreicht das Geschehen zurückhaltend aber wirkungsvoll. Sie ist angemessen traurig und deprimierend, ohne pathetisch zu sein und in Kitsch abzurutschen.
Doch obwohl der Film eine Tragödie ist, gibt es ab und zu Anflüge von leisem Humor. Dieser tritt vor allem dann auf, wenn das Ermittlerduo in die Handlung eingebunden wird. Ein schönes Beispiel dafür ist die Szene, als der junge Deputy kurz vor einer Befragung noch schnell seinen Kaugummi unter einen Tisch klebt. Der Zuschauer darf schmunzeln, ohne mit flachem Slapstickhumor wie in "Last House on the left" von Wes Craven konfrontiert zu werden. Wo bei diesem Film die Polizisten tatsächlich fast nur zur humorigen Auflockerung bzw. dazu dienen, die restlichen Geschehnisse noch schockierender wirken zu lassen, so tragen sie in Firecracker doch zur Spannung bei. Man muss ehrlich sagen, dass der Film als solcher nicht unbedingt spannend ist (was als Tragödie natürlich auch nicht sein Ziel ist), doch durch die Polizisten bekommt der Film durchaus eine spannende Note, da der Zuschauer bis zum Schluss selten mehr weiss, was wirklich geschehen ist, auch durch die Einführung neuer Verdächtiger.
Vor allem der Neuling Jak Kendall überrascht in der Rolle als Jimmy. Er bringt den sensiblen jungen Mann sehr glaubwürdig rüber, mit fein nuancierter Mimik. Die bekannteste des Casts dürfte wohl die oscarnominierte Karen Black sein, deren bekannteste Rolle der letzte Jahre wohl die der Mother Firefly in Rob Zombies "House of 1000 Corpses" sein dürfte. Mike Patton, eigentlich Musiker (Faith No More), spielt die Doppelrolle Frank/David, neigt jedoch meines Erachtens nach als Frank leicht zum Overacting. Susan Traylor spielt die Polizistin Ed als emanzipierte Frau mit scharfem Verstand. Die Freaks werden (in fast schon guter Tradition) von echten Freaks gespielt. Der bekannteste von ihnen dürfte The Enigma sein, der auch schon bei Akte X einen Auftritt hatte.
Alles in allem kann man sagen, dass Firecracker ein echtes Juwel ist. Selten gab es in letzter Zeit einen visuell besseren Film, der es jedoch vermochte den Zuschauer tief zu berühren, ohne in eine seelenlose CGI-Orgie auszuarten. Allerdings muss man hier nochmal eine "Warnung" ausprechen: der Film ist nicht ganz einfach anzuschauen da einfach enorm viel drin steckt. Wer jedoch völlig offen an ihn herangeht, hat die Chance, sich im positiven Sinne in diesem Bilderrausch zu verlieren. Man darf gespannt sein, was von Steve Balderson noch so kommt.