Romanverfilmungen sind immer eine prekäre Sache. Ähnlich wie Remakes, die die Kinoleinwände in der letzten Zeit geradezu überfluten, müssen sie sich immer an ihrem, in diesem Falle literarischen, Vorbild messen. Nicht selten kommt es dann zu hitzigen Diskussionen, was die filmische Nachbildung falsch oder richtig, gut oder schwach darstellt.
Geradezu prädestiniert für Literaturverfilmungen sind in der heutigen Zeit die Werke Stephen Kings, da dessen immense Veröffentlichungsdichte auch genug Material dazu bietet und die Horror- bzw. Okkultwelle ohnehin floriert.
Allerdings nehmen gestandene Regisseure ab und an auch mal die Aufgabe auf sich, Romane für das Zelluloid umzusetzen, die einen gewissen Anspruch und allgemeinen Bekanntheitsgrad aufweisen. Stephen Daldry („The Hours“), Regisseur von bisher nur fünf Kinofilmen, wobei er für jede einzelne Regiearbeit für den Oscar nominiert war, hat sich dieser Aufgabe gestellt und eine internationale Besetzung um sich geschart, die wirklich für sich spricht, um Bernhard Schlinks „Der Vorleser“ für das Kino umzusetzen.
Die Handlung folgt natürlich dem Roman: Der erst 15-jährige Michael Berg (David Kross) macht eines Tages die Bekanntschaft mit der deutlich älteren Hanna Schmitz (Kate Winslet) und mit ihr gleich seine ersten erotischen Erfahrungen. Es beginnt mit reiner körperlicher Liebe, die zunehmend auch persönliche Ausmaße annimmt. Die Besonderheit dieser Beziehung liegt auc
h darin, dass sie fasziniert davon ist, wenn ihr vorgelesen wird. So geschieht es, dass Michael ihr ausgesuchte Werke der Weltliteratur vorliest. Dabei verschweigt sie ihm die Tatsache, dass sie Analphabetin ist. Seine eigene Generation und Familie völlig vernachlässigend, lebt er nur noch für diese Beziehung, in der es durch Hannas etwas schroffes Wesen hin und wieder auch ein wenig kriselt. Trotzdem empfinden es scheinbar beide als Erfüllung. Doch eines Tages, als Michael wie gewohnt zu Hanna möchte, muss er plötzlich feststellen, dass sie ohne eine Angabe ihres aktuellen Wohnortes verzogen ist…
Zu Studentenzeiten besucht er mit seinem Kurs, dessen Lehrer (Bruno Ganz) ein stiller Beobachter und hinterfragender Mensch ist, einen Gerichtsprozess, in welchem Nazi-Verbrechen aufgedeckt und Tatpersonen entsprechend verurteilt werden sollen. Auf der Seite der Beschuldigten sitzt auch Hanna Schmitz…
Bemerkenswert an dieser filmischen Umsetzung eines literarischen Werkes ist die Konsequenz, die hier an den Tag gelegt wird. Der langsam und bedächtig inszenierte Film versucht zu keiner Zeit, krampfhaft Schwung und Hektik in die Inszenierung zu bringen, denn das hat er auch gar nicht nötig. In vielen Szenen bestimmt die Synästhesie von Ton und Bild das Geschehen, sodass die Erzählweise insgesamt von Ruhe, aber auch Beständigkeit gekennzeichnet ist.
Hervorragend gelöst wurde die Gestaltung des Films als eine Art Triptychon, wobei sich die drei Teile kompositorisch unterscheiden. Zum einen ist das der Teil mit dem jungen Michael Berg, der gekennzeichnet ist durch die bereits angesprochene Komposition der Kameraarbeit mit der musikalischen Unterlegung und eine unübersehbare Vorliebe für die Verwendung von warmen Farben und harmonischen Einstellungen, die durch ihren Verzicht auf jegliche negative Abstufungen die Einseitigkeit der ersten, in diesem Fall seltsam anmutenden, Liebe verdeutlichen. Die Beziehung der beiden wird in diesem Abschnitt bis auf kleinere Differenzen als nahezu perfekt angedeutet, auch wenn sich zwischenzeitlich kleinere Hinweise darauf finden, dass irgendetwas nicht stimmen kann.
Der zweite kompositorische Teil des Films beginnt dann mit dem Gerichtsprozess, in dem Michael Hanna entdeckt. Dieses Erlebnis, dass sie in diesem Prozess möglicherweise Schuld bekommt und auch Schuld hat, macht ihm sehr zu schaffen. Ausgedrückt wird das fortan in trostlosen Bildern, in denen es regnet und trübe Wolken ziehen. Bilder der Einsamkeit, die Michael allein auf offenen Feldern oder Bahnschienen zeigen. Als er ein leer stehendes KZ besichtigt, zeigt das, inwieweit ihn diese Tatsache belastet. Er hatte bisher nur eine Vorstellung aus der Schule davon, jetzt stellt er sich diesem Ort persönlich und diese KZ-Begehung wird eindrucksvoll untermauert durch giftgrüne Farben; eine ansteckend wie eine Krankheit wirkende, abstoßende Atmosphäre untermalt diese Szenen, sodass Regisseur Daldry hier auch gleich seine eigene Kritik an diesen „Einrichtungen“ hervorbringen kann. Monochrome Bilder beherrschen diese Szenenabfolge, Michael wirkt verloren vor den großen Gerätschaften des Konzentrationslagers, was unangenehm verdeutlicht, wie unbedeutend ein Mensch in der Maschinerie der KZ-Politik war.
Auch in den folgenden Szenen sehen wir Michael oft allein, den Kopf, wenn überhaupt, nur durch die Hände gestützt. Die Szenerie im Gerichtssaal ist spannend gemacht und schnürt in einigen Momenten trotz aller Inszenierungsruhe die Kehle zu.
Die narrative Klammer des Films, die Erinnerungspassagen des alten Michael Berg (gespielt von Ralph Fiennes), welcher dann gegen Ende des Films ein real stattfindendes Szenario bekommt, komplettiert die Dreiteilung. Von Anfang an ist er Teil der Handlung, man sieht hin und wieder, wie er sich erinnert und schlussendlich, nachdem die Geschichte des jungen Michael Berg abgehandelt ist, setzt die des alten Berg ein und wird ab dann fortgeführt.
Michael Berg als Erwachsener wirkt desillusioniert, sein Leben hat keine rechte Form: seine Ehe mit einer Frau ging in die Brüche, das Verhältnis zu seinen Eltern ist nicht sonderlich gut, wobei der Vater bereits verstorben ist. Dass ihm Schwerpunktsetzung und Konfrontation immer noch schwer fallen, zeigt die Aussage der Mutter, wenn sie ihm vorwirft, er komme, um ihr von seiner Scheidung zu erzählen, aber er wäre nicht einmal auf der Beerdigung seines Vaters anwesend gewesen.
Hanna indes zeigt im Gefängnis viele Anzeichen einer Katharsis. Sie versucht, sich selbst das Lesen beizubringen, nachdem ihr Charakter sich dafür so sehr geschämt hat, dass sie selbst alle Schuld im vor Gericht verhandelten Fall der Judenvernichtung auf sich nahm.
Als sich die beiden wieder sehen, schmerzen die Bilder. Nichts ist mehr von der damaligen Liebe übrig, die fahlen, grauen Bilder im Gefängnis sind das direkte Gegenteil zu den warmen Kompositionen des Beginns. Sie haben sich nicht viel zu sagen, und die Gespräche haben keinen wirklichen Bezugspunkt. Spätestens bei Hannas Feststellung, das Vorlesen sei „nun wohl vorbei, hm?“, wird deutlich, dass es für diese beiden Menschen keine Chance mehr für ein Miteinander gibt. Hannas anschließender Freitod kurz vor ihrer Freilassung ist dann eins der polyvalentesten Geschehnisse im gesamten Werk. Hatte sie Angst vor der Welt draußen? Dachte sie, sie würde nicht mehr Fuß fassen können? Schämt sie sich zu sehr ihrer Taten? Will sie gar Buße tun? Diese Entscheidung jedenfalls muss jeder Zuschauer für sich selbst treffen.
Darstellerisch fährt „The Reader“ (engl. Originaltitel) bekanntermaßen einiges an Schwergewichten auf. Kate Winslet erhielt den Oscar in diesem Jahr vollkommen zu Recht für ihre kraftvolle Leistung als Hanna Schmitz, die sie jederzeit glaubhaft, ohne Scheu vor Nacktszenen und oft auch undurchdringlicher Intensität darstellt, was den Charakter nicht nur interessant, sondern die Darstellung auch sehenswert macht.
Der durch Zufall in die Filmbranche gerutschte, gerade 18-jährige David Kross („Krabat“) erweist sich in seiner Rolle des jungen Michael Berg als sehr talentiert und verleiht seiner Rolle das nötige Profil. Ralph Fiennes als alter Michael Berg hat ein wenig mit der Desillusionierung der Rolle zu kämpfen. Zwar bringt er dieses Aussichtslose, was in der Rolle steckt, gut rüber, allerdings wirkt er insgesamt leider etwas steif und auch leicht eintönig, was aber der Intensität des Films keinen Abbruch tut. Das wäre auch unmöglich, denn auch, wenn ein Ralph Fiennes („Der Englische Patient“) mal nicht preisverdächtig spielt, schadet er dem Film noch lange nicht.
Der Pluspunkt der vielen bekannten Nebenrollen führt gleichzeitig auch zu einem kleinen Problemfall: Alexandra Maria Lara („Jugend ohne Jugend“) hat gerade mal zwei bis drei Szenen, Karoline Herfurths („Im Winter ein Jahr“) Rolle bleibt leider vollkommen nebensächlich, auch Susanne Lothar („Funny Games“) als Michael Bergs Mutter darf nur in wenigen Szenen auftreten und bleibt insgesamt ohne wirkliches Profil. Bruno Ganz („Der Untergang“) kann sich da einzig etwas in der Rolle des Lehrers hervortun. Die strikte Konzentration auf die beiden Hauptfiguren lässt so leider einige sehr gut besetzte Nebenrollen einfach verblassen, was etwas schade ist.
Im Bezug zum Roman lässt sich sagen, dass Daldry hervorragende Bilder für die Umsetzung gefunden hat, die dem Werk Schlinks Tribut zollen und ähnlich gelagert sind. Sie wirken oft poetisch, ebenso wie viele Teile des Buches. Die teilweise bildliche Darstellungsweise des Romans, beispielsweise bei der Badeszene, übersetzt der Film gekonnt in bewegte Bilder, was demnach nicht einem gewissen visuellen Anspruch entbehrt.
„Der Vorleser“ ist also eine großartig gelungene Romanverfilmung mit einem hohen Wirkungsgrad, einer beispielhaften Vorlagentreue und einer absolut versierten Inszenierung.