Filmgeschichte bei mannbeisstfilm: bereits mehrere Male wilderten wir ja im Genre des italienischen Polziesci. Nun tritt also der Urvater dieser Filme seinen Gang zur gnadenlosen Rezension an, „Das Syndikat“ ist endlich auf DVD erschienen. Wir erinnern uns: Poliziesci, das sind italienische Kriminalfilme, die man als Nachfolger und Modernisierung der Spaghetti-Western begreifen kann. Pferd wird gegen Auto getauscht, Banditen gegen Mafiosi, und einsamer Rächer (oftmals) gegen einsamen Polizisten, der sich mit Verbrechern, Vorgesetzten und Justiz rumschlagen muss; einiges bleibt gleich, etwa die nihilistische Grundstimmung, die oftmals dauerhaft gewalttätige Atmosphäre und der scheinbar unmögliche Sieg des Guten über das Böse. Nehmen wir also „Das Syndikat“ unter die Lupe, der Film, der gemeinhin als der gilt, der als erster alle wesentlichen Elemente des Genres in sich vereinigte und zahlreiche Nachahmer nach sich zog.
Rom in den frühen Siebzigern: das Verbrechen beherrscht die Straßen, böse Buben tanzen der Justiz auf der Nase herum, und die wenigen aufrechten Polizisten sind machtlos. So auch Mario Bertone, Hauptkomissar des römischen Morddezernats, der einen besonders brutalen Raubüberfall klären soll. Bei diesem werden zwei Menschen eiskalt erschossen, der flüchtige Täter Michele nimmt auch noch eine junge Autofahrerin als Geisel, um seine eigene Haut zu retten. Doch nicht nur mit diesem latenten Psychopathen muss sich Bretone beschäft
igen, auch die Presse fällt der Polizei immer wieder in den Rücken und macht in der Öffentlichkeit jede Menge negative Stimmung. Doch plötzlich sterben immer mehr Kleinkriminelle: eine mysteriöse Gruppe tötet jede Nacht Verbrecher, die wieder auf freiem Fuss sind, und nimmt somit das Gesetz in die eigene Hand. Bertone sieht sich einem existentiellen Konflikt gegenüber: einerseits er als Vertreter des Rechtsstaats, andererseits diese Gruppe die Selbstjustiz übt, und damit übles Gesindel aus dem Weg räumt...
Das ist er also, der legendäre „La polizia ringrazia“ aka „Das Syndikat“. Und, man kann durchaus beeindruckt feststellen: im Gegensatz zu etwa „
Blutige Seide“ (der Urvater des Giallo), wirkt der Film von Regisseur Steno deutlich frischer, wenn man ihn mit seinen Nachfolgern vergleicht. Das Tempo ist recht hoch, der Stil zeitgemäß, und – kennt man die zeitliche Einordnung nicht – könnte es einfach einer der vielen Poliziesci sein, die es da draußen so gibt, irgendwo zwischen Damiano Damiani und Stelvio Massi (dazu aber später noch mehr); er „tarnt“ sich einfach sehr gut. Dabei macht der Film vieles richtig, aber auch noch ein paar Sachen falsch bzw. nicht so elegant, wie sie etwa andere Filme später machten. Doch eines sei schon hier angemerkt: der Soundtrack von Stelvio Cipriani (
Der Tod trägt schwarzes Leder) ist wieder sensationell! Und auch bei der Besetzung darf man sich wundern. Hauptdarsteller Enrico Maria Salerno kennt man ja, ebenfalls natürlich den großen Mario Adorf oder etwa auch Laura Belli, aber das Casting des jungen Kriminellen und damit einer Hauptrolle hat mich doch verwundert: Michele wird von niemand geringerem – in seiner ersten und einzigen Hauptrolle – als dem König von Mallorca, Jürgen Drews, gespielt! Und hui, der Herr macht seine Sache nicht einmal schlecht!
Drews überzeugt dabei sehr in der Rolle eines Charakters, der leider sonst recht blass bleibt. Wir erfahren kaum etwas über Michele, er ist halt ein Krimineller der auch mal Leute über den Haufen schießt. Die Geiselnahme ist laut den Interviews auf der DVD wohl sogar ihrer Zeit voraus bzw. hochaktuell, denn diese Art von Verbrechen war bis dahin „unerhört“. Sicherlich, manchmal ist der Charakter nur fies, weil das Drehbuch schwächelt (so zwingt er Laura Belli dazu, sich auszuziehen, damit sie nicht wegläuft; er hätte sie auch fesseln können, aber so kriegt man halt nacte Haut im Film unter), aber trotzdem: Jürgen Drews macht seine Sache wirklich gut. Aber gegen Schauspieltitanen wie Salerno oder Adorf kommt er natürlich keineswegs an, gerade Salerno in der Rolle des Mario Bertone liefert eine Glanzleistung ab. Hin- und hergerissen zwischen Pflichterfüllung und Frustration nimmt Bertone in einer langen Sequenz – die den Plot quasi rabiat stoppt – die Presse und damit uns auf eine Reise in die nächtliche Straßen Roms mit, wo er uns die Verflechtungen des Verbrechens und der Gesellschaft erklärt. Eine löbliche Intention von Regisseur Steno, aber Damiano Damiani schüttelt sich so eine Szene problemlos aus dem linken Ärmel, greift dabei tiefer und inszeniert sie vor allem eleganter.
Auch die Wildheit eines
Umberto Lenzi erreicht der Film nicht, so dass er sich am besten eben irgendwo zwischen Damiani und Massi einordnen lässt. Die Handlung gewinnt aber genau zum rechten Zeitpunkt an Umfang, als sich die Ermittlung gegen Michele langsam totläuft: dann taucht endlich das „titelgebende“ (nunja...) Syndikat auf! Mit dem Filmwissen von heute gewinnt der Film eine neue Dimension: er ist praktisch „Der blutige Pfad Gottes“ aus Sicht von Willem Dafoe, nur dass Salerno niemals so zweifelt, doch seine Kollegen die Taten der anonymen Rächer tatsächlich zu weiten Teilen gutheißen. Durch all das Chaos in den Straßen ist Bretones Dilemma natürlich leichter nachvollzuziehen, auch weil der Film das Thema sehr ernst nimmt, und nicht mit vermeintlich „coolen“ Rächern wie in Duffys Film abspeist. Wünschenswert wäre es natürlich gewesen, die Frage nach dem Zweck, der die Mittel heiligt, tiefer zu beleuchten, aber es ist nunmal ein Frühwerk des Genres und eben auch kein Film eines Damiano Damiani.
Salerno ist also großartig, Drews überraschend gut, und von Mario Adorf hätte ich persönlich mehr Screen-Time gewünscht. Trotzdem kann Stenos Film als Frühwerk auf ganzer Linie überzeugen. Zur Sechs-Sterne-Wertung fehlt ihm einfach ein bisschen der Feinschliff, da er eben noch zwischen den Stühlen eines Lenzi-Actionwerks oder eines Damiani-Politthrillers steht. An den Ecken und Kanten kann man sich reiben, aber das ist ja auch mal was schönes, da der Film so unabhängig seiner Vorreiterstellung aus dem Genre heraussticht.
Noch kurz zur DVD: vielen Dank für die Bereitstellung eines Rezensionsexemplares! Colosseo Film bringt uns „Das Syndikat“ nach langen Jahren des Wartens sogar als Doppel-DVD, und das bei so einem Streifen für quasi ein Nischenpublikum! Auf der Doppel-DVD erwarten uns neben dem remasterten Film in drei Sprachfassungen (in der dt. Fassung ist eine Szene kurz untertitelt) über 2 Stunden neue Interviews mit Jürgen Drews, dem Produzenten Dieter Geissler und dem Autor Peter Berling! Das ganze kommt auch noch in einem schönen Pappschuber daher, so dass die Veröffentlichung für alle Kenner und Interessierte eine dicke Empfehlung bekommt!