Paula, eine ambitionierte Medizin Studentin, fährt dieses Jahr nicht in Urlaub. Da sie als eine der Besten ihres Jahrgangs ausgewählt wurde, bei Professor Grombek, einer Koryphäe der Anatomie und Medizin, an der Universität Heidelberg einen Sommerkurs zu belegen, begibt sie sich zusammen mit dem Luder Gretchen in die namhafte Universitätsstadt, nur um sich dort einem psychopathischen Killer gegenüberzustehen, der nacheinander Studenten und Professoren dezimiert.
Wieder einmal liegt hier ein abschreckendes Prachtexemplar eines „Horrorthrillers“ vor, der seinem Publikum beweist, dass es nun wirklich nichts Neues mehr unter der Sonne gibt und in Deutschland die Ära der großen Horrorfilme schon lange vorbei ist. Im Gegensatz zu seinen französischen Artgenossen, aus denen Schocker wie „Deep in the Woods“ (2000) oder „High Tension“ (2003) durch Hardcore-Blutorgien, innovativere Scripts und atypische Charaktere herausstechen, geht Stefan Ruzowitzky mit seinem auf der Welle von üblen amerikanischen Teenie-Horrorfilmen mitsurfendem „Anatomie“ ganz schaurig-vorhersehbar konventionelle Wege:
Da wäre einmal die langweilige Zweiteilung der Charaktere in gute, (zunächst) jungfräuliche Mädchen, die so brav aussehen, dass sie nicht einmal den Sinngehalt des Wortes „Böse“ zu kennen scheinen, und sich die Kleider vom Leibe reißende, exhibitionistische Bad-Girls, eine Charakterzeichnung, welche seit 1978 von jedem Möchtegern-Regisseur
des Genres kopiert wird.
In der hier vorliegenden Story ist das gute Mädchen die brave und höchst ehrgeizige, manchmal allerdings recht zickige Medizinstudentin Paula, die vorerst am anderen (und natürlich auch am eigenen) Geschlecht keinerlei Interesse zeigt und zahlreiche balzende Auerhähne eiskalt abblitzen lässt. Ihr gegenüber steht das verluderte Gretchen, welche laut eigener Aussage nur die wirklich harten Hänsels hineinlässt und permanent nichts als die schönste Nebensache der Welt im Sinne hat, von knackigen Männerhintern schwärmt sowie von den Besonderheiten, Formen und Größen der männlichen Stärke spricht.
Und jetzt ratet einmal, welche der beiden Damen bald abkratzen darf, und welche als Final-Girl mit dem Leben davonkommt?
Paula scheint überhaupt die einzige zu sein, die keine Nymphomanin (bzw. Satyr) ist, denn auch die anderen StudentInnen interessieren sich weniger für die Anatomie der Toten, als vielmehr für diejenigen ihrer KomilitonInnen. Das Script nimmt hier seine Charaktere wirklich alles andere als ernst und zeichnet das übliche Bild der postpubertären, adoleszierenden Studenten, deren Geschick einem ungefähr so nahe geht wie die Blähungen der Nachbarskatze.
Trotz der erwähnten Kritikpunkte gibt es aber ein wenig zu loben: so ist das Drehbuch nicht krampfhaft darum bemüht, den Zuseher an der Nase herumzuführen und ihm erst gegen Ende den Mörder, welcher meist aus an den Haaren herbeigezogenen Motiven handelt, zu präsentieren, sondern enthüllt die Identität des Killers ziemlich bald und lässt ihn aus ganz banalen (daher glaubwürdigeren) Motiven, nämlich Liebeskummer und übersteigerter Eifersucht, seine Morde begehen.
Die Leistungen von Franka Potente, Benno Führmann, Anna Loos, Rüdiger Vogler, nicht zu vergessen von Traugott Buhre, der als faschistoider Professor Grombek brilliert und dessen Nebenrolle weit mehr subtile Feinzeichnung aufweist, als das bei den Protagonisten der Fall ist, lassen nichts zu wünschen übrig, und die Cast spielt sämtliche Schauspieler des amerikanischen Teeniehorrors mit Links an die Wand.
Auch die Grundthematik ist innovativ und hätte sehr viel mehr an Potenzial innegehabt. Gerade die Frage, wie weit man zum Wohle der Allgemeinheit gehen darf, ob die Rechte des Einzelnen wirklich unter denen der Gemeinschaft stehen, ob die Eugenik des Nationalsozialismus nicht doch legitim war (Professor Grombek lobt die vielen medizinischen Verdienste, die zwar einerseits abzulehnen sind, andererseits aber heute Millionen Patienten helfen und gerne in Anspruch genommen werden, und bezeichnet Alte, Kranke, Behinderte etc. als „unwertes Leben“), und die altbekannte Grenzenlosigkeit von Wissenschaft und Forschung werfen schwierige sowie komplexe ethische Dilemmata auf, welche diesen mangelhaften Film, zumindest aufgrund seines Überbaus intellektuell betrachtet, interessanter werden lassen. Die Idee der Antihypokraten ist recht gelungen und vermag es, einen interessanten Bogen zur nationalsozialistischen Vergangenheit zu spannen.
An einigen Stellen wird hier „Anatomie“ richtig gesellschaftskritisch, etwa wenn er die Pharmaindustrie kritisiert und den immensen Druck anspricht, welchem die durch die gängige beliebte Sparpolitik im Gesundheitsbereich unterfinanzierten Forschungsinstitute, Kliniken und Universitäten, die nicht mehr, ohne illegale Pfade zu beschreiten, finanziell überleben könnten, ausgesetzt sind. Hier ist Ruzowitzkys Drehbuch alles andere als Schwarz/Weiß, weshalb er knapp an einer ganz schlechten Bewertung vorbeischlittert.
FAZIT: „Anatomie“ funktioniert vielleicht als gruselige Kleine-Mädchen-Geschichte bzw. Gutenachtgeschichte für Pubertierende noch ganz gut, den Genrekenner wird er jedoch nicht beeindrucken können. Trotz dem originellen Konzept, das den Killer seine Opfer nicht einfach nur niedermetzeln, sondern sie Leichen zu schaurig morbiden Kunstwerken verarbeiten lässt, und einem interessanten Setting, ermüdet der Plot durch seine Vorhersehbarkeit nur allzu schnell und lässt den Zuseher immer wieder gähnen oder aus dem Schnarchen hochschrecken.
„Anatomie“ ist ein gescheiterter Versuch eines Horrorthrillers, der die These, jedes Original sei besser als sein Sequel, in Frage stellt. Wer zuerst die hervorragende Fortsetzung gesehen hat und sich später einmal dessen Vorgänger ansieht, wird jedenfalls bodenlos enttäuscht sein, kann sich die Story doch nicht entscheiden, was sie nun eigentlich sein möchte bzw. worauf sie hinaus will, sodass der Eindruck eines konfusen, wirren Mischmaschs entsteht, der alles andere als gut durchdacht scheint.