Am 7. März 1999 starb einer der bedeutendsten Regisseure unserer Zeit.
Stanley Kubrick war ein Genie seiner Zunft und zeichnete sich unter anderem für Meilensteine der Filmgeschichte wie „2001 – Odyssee im Weltraum“ (1968), „Uhrwerk Orange“ (1971) oder „Full Metal Jacket“ (1987) verantwortlich. Da er wie besessen an einem einzelnen Werk feilte bis dieses endlich die von ihm angestrebte Perfektion erreicht hatte, konnte die reine Drehzeit schon mal 17 Monate und der Raum bis zum nächsten Projekt 12 Jahre betragen.
Dieser Umstand trieb dann auch sowohl die Produktionsstudios sowie die beteiligten Schauspieler, die über diesen Zeitraum keine weiteren Rollenangebote annehmen konnten, vollkommen in den Wahnsinn, da Kubrick eben dazu neigte auch nach Abschluss der offiziellen Dreharbeiten weitere Nachdrehs anzuordnen. Dass die Creme de la Creme des Filmgeschäfts trotzdem immer wieder Schlange stand um mit dem exzentrischen Regisseur zusammenzuarbeiten, lag daran dass man sich sicher sein konnte an einem weiteren filmischen Meisterwerk mitgewirkt zu haben.
„Eyes Wide Shut“ stellt den letzten Film in Stanley Kubricks Leben dar, er wurde vier Tage vor dessen Tod im Alter von 71 Jahren beendet. Der Regisseur strebte das Projekt, welches auf Arthur Schnitzlers 1926 erschienener „Traumnovelle“ basiert, bereits seit über 30
Jahren an, wobei die erste Klappe der Dreharbeiten erst im November 1996 fiel.
Bereits zu Beginn verlässt der ursprünglich als Victor Ziegler vorgesehene Harvey Keitel aufgrund von Differenzen zwischen ihm und Kubrick das Projekt und wird von dem Schauspieler und Regisseur Sydney Pollack („Tootsie“, „Jenseits von Afrika“, „Die Firma“) ersetzt. Auch die Darstellerin der Marion Nathanson, Jennifer Jason Leigh, schmeisst letztendlich das Handtuch, da sie nicht bereit gewesen ist aufgrund von weiteren Nachdrehs ihre Rolle in dem David Cronenberg-Film „eXistenZ“ aufzugeben. Ihren Part übernahm dann die Schwedin Marie Richardson.
Am Ende beliefen sich die Dreharbeiten zu „Eyes Wide Shut“ auf stolze 17 Monate, was einen Rekord in der Filmgeschichte darstellte.
Eigentlich könnte man ein ganzes Buch zu jedem einzelnen Aspekt des Films (Dreharbeiten, Handlung, Farben, Musik etc.) verfassen. Kubrick hat natürlich wieder sämtliche Register seines Könnens gezogen und dem hungrigen Zuschauer einen wahrhaften Brocken von absolut zeitloser Eleganz serviert, der die Leute auch in vielen Jahren noch faszinieren wird.
Im Gegensatz zu Schnitzlers Vorlage, hat Kubrick die Geschichte vom Wien der 20er Jahre ins heutige New York verlegt.
Der selbstbewusste und äußerst erfolgreiche Arzt Bill Harford (Tom Cruise, „Geboren am 4. Juli“, „Rain Man“, „Jerry Maguire“) lebt mit seiner attraktiven Frau Alice (Cruises damalige Ehefrau Nicole Kidman,
„Moulin Rouge!“, „Dogville“, „Unterwegs nach Cold Mountain“) und ihrer gemeinsamen Tochter Helena (Madison Eginton) in einer üppigen Wohnung eines noblen New Yorker Stadtteils. Alles scheint perfekt zu sein, die Familie lebt im Luxus und wird regelmäßig von der dortigen High Society zu den angesehensten Feiern eingeladen.
Bills traumhafte kleine Welt gerät allerdings eines Nachts aus den Fugen als ihm Alice während eines Joints erzählt dass sie sich während eines Urlaubs unsterblich in einen anderen Mann verliebt habe und sie ihre Familie für nur eine Nacht mit diesem auf der Stelle aufgeben würde. Diese Beichte hat die Grundmauern der familiären Festung des Arztes zum einstürzen gebracht, und so macht sich der in seinem Stolz gekränkte Bill abenteuerlustig in das nächtliche New York auf. Dort lernt er die sympathische Prostituierte Domino (Vinessa Shaw,
„The Hills Have Eyes“) kennen und trifft seinen alten Studienkommilitonen Nick Nightingale (
„Little Children“-Regisseur Todd Field), der sich seinen Lebensunterhalt inzwischen als Pianist verdient und Bill von einer obskuren Veranstaltung erzählt, auf welcher er in der Nacht noch mit verbundenen Augen Musik spielen muss. Bill ist neugierig und quetscht seinen alten Bekannten solange aus bis dieser schließlich einwilligt, ihm den Ort der geheimen Veranstaltung zu nennen.
Um überhaupt Zugang zu erhalten muss sich Harford allerdings ein Kostüm und eine Maske beschaffen, da sämtliche Anwesende dort vermummt auftauchen. Also fährt er auf dem Weg bei dem Kostümverleih des zwielichtigen Milich (Rade Serbedzija, „Snatch“, „Shooter“) vorbei, der zusätzlich scheinbar als Zuhälter seiner minderjährigen Tochter (Leelee Sobieski, „Joy Ride“) fungiert.
Bill schafft es schließlich mit Nicks Zugangspasswort auf die Veranstaltung zu gelangen und kann seinen Augen nicht trauen: Wie zu einer okkulten Orgie ertönen barocke Klänge während es wunderschöne und bis auf ihre Masken splitternackte Frauen freizügig mit den dort anwesenden verleideten Männern treiben.
Eine der Frauen kommt auf Bill zu und warnt ihn; er befände sich dort in großer Gefahr. Und schon bald wird er von einem der Anwesenden in einen großen Saal gebeten, wo er sich inmitten anderer in einen Kreis stellen muss. Der inzwischen nervöse Harford wird darauf hingewiesen dass er keine Zugangserlaubnis zu dieser Veranstaltung habe und nun eine schwerwiegende Bestrafung folgen wird. In letzter Sekunde taucht die Frau auf, die Bill schon zuvor gewarnt hat, und gibt sich an Bills Stelle als Opfer hin.
Der verstörte Arzt kehrt wieder nach Hause zurück. Er kann diese Nacht nicht aus seinem Kopf verdrängen und stellt nun weitere Nachforschungen an. Dabei stellt er fest dass sein Freund Nick Nightingale scheinbar spurlos verschwunden ist…
Was Stanley Kubrick dem Zuschauer da vorsetzt ist ein zutiefst mystischer Trip durch das verbotene Reich der menschlichen Lust. Der intelligente aber ursprünglich aufgrund seines chronischen Familienglücks recht naive Arzt entdeckt auf seiner Odyssee durch die dunklen Strassen der Großstadt Dinge, die ihn zutiefst erschüttern und ihn letztendlich wieder in die Arme seiner Familie treiben. Durch das Geständnis seiner Frau wird er verleitet, auf die Suche nach etwas anderem, vielleicht einer anderen Liebe, zu gehen, aber auf seiner Reise findet er keine Wärme oder Zuneigung sondern oftmals nur Schein und Dekadenz.
Das alles wird vom großen Meister Kubrick kongenial in Szene gesetzt. Der gesamte Film verläuft in einem sehr langsamen und hypnotisch wirkenden Tempo, das sich aber nicht ermüdend auswirkt, sondern dabei hilft sich als Zuschauer in die traumhafte Szenerie einzufinden. Auch die Farben des Films sind einfach atemberaubend, da sie aus jeder Einstellung das Maximum an Atmosphäre herausholen.
Natürlich stellen die Schauspieler das Herzstück von „Eyes Wide Shut“ dar, und besser als in diesem Film hat man Tom Cruise und Nicole Kidman nie gesehen. Man merkt förmlich dass die beiden ihre Rollen nicht spielen sondern leben. Nicht ohne Grund geben die beiden an dass die intensiven Dreharbeiten schon damals fast ihre Ehe, die inzwischen beendet ist, zerstört hätten. Der Film wühlt unter der Oberfläche und zeigt neben ästhetischen nackten Frauenkörpern auch den Dreck, der hinter verschlossen Türen liegt oder sich unter der menschlichen Hirnrinde abspielt. Er ist einerseits sinnlich und verspielt und andererseits düster und abstoßend.
Wie es der Titel „Eyes Wide Shut“ schon ausdrückt geht es hier nicht unbedingt um den Vorgang des Sehens mit den Augen sondern um das In-sich-kehren und auch das Träumen. So kann z.B. Bill die gebeichtete Fantasie seiner Frau nicht abschütteln und sieht sie ständig vor seinem geistigen Auge mit dem anderen Mann.
Man könnte wie schon erwähnt ganze Bücher mit Interpretationen von Stanley Kubricks letztem Streich füllen, doch das würde den Rahmen hier eindeutig sprengen.
Mit diesem Film hat eines der letzten großen Regiegenies uns ein vollendetes Werk hinterlassen, das auch in Zukunft Menschen zum Staunen, Denken und Fühlen anregen wird!