Ein Strand. Rauschendes Meer. Ein junges Mädchen kniet schluchzend über seinem Verehrer und rezitiert das "Hohelied der Liebe" aus dem Korintherbrief. Dazu erklingt der zweite Satz aus Beethovens siebenter Sinfonie. "Love Exposure", der neue Film des japanischen Regie-Rebellen Sion Sono ("Strange Circus", "Suicide Circle") - eine atemlose Rallye durch die gegensätzlichsten Genres, Stile und Stimmungen; ein übergangsloser Mix aus Drama, Teenie-Burleske, Satire, Romanze, Revenge-Movie, Hongkong-Action, Splatterfilm, kulturhistorischen Bezügen und vielem mehr - ist im Kern selbst ein Plädoyer für die Liebe als höchstes Gut des zivilisierten Menschen, die alles überdauert. Sono predigt einen Ur-Individualismus, losgelöst vom unbedingten Einfluss moralischer Instanzen wie Staat und Kirche (in einem erweiterten Sinn hier auch der Sekten), der jedoch nichts von einem anarchistischen Weltbild hat. Eher treibt er auf lustvoll-provokative und zugleich reflexive Weise sein Spiel mit von unserer Gesellschaft vorgegebenen Weltbildern und Vorurteilen sowie - scheinbar typisch japanisch - mit Voyeurismus und Tabubrüchen.
Yu (Takahiro Nishikima), ein braver Pastorensohn, verliert sehr früh seine Mutter. Daher ist die Beziehung zum Vater (Atsuro Watabe) umso enger. Das ändert sich schlagartig, als der eine Affäre mit der stürmischen Kaori (Makiko Watanabe) beginnt, die wegen deren Umtriebigkeit schließlich in die Brüche geht. In der wahnhaften Überzeugung sein
er eigenen Schuld zwingt der Vater seinen Sohn wiederholt zur Beichte. Yu hat aber nichts zu beichten, weil er eben keine Sünden begeht. In seiner Verzweiflung trifft er auf eine randalierende Jugendgang, die ihn einem seltsamen Lehrmeister vorstellt, der Yu sagt, dass alles, was er auf dieser Welt suchen würde, im Schoß der Frauen verborgen läge. Er unterrichtet Yu in der Disziplin des Unter-den-Rock-Fotografierens, die fortan zu Yus Lebensbestimmung wird. Eines Tages verliert er eine Wette mit seinen Kumpels, woraufhin er in Frauenkleidern und mit Perücke in den Stadtpark gehen und das erste Mädchen küssen soll, das ihm gefällt. Dies ist die bildschöne Yoko (Hikari Mitsushima), die er vor ein paar Schlägern rettet und in die er sich sofort verliebt.
Was Yu nicht weiß: Eine dubiose Sekte mit Namen "Zero Church", deren verführerische, aber respekteinflößende Anwerberin Koike (Sakura Ando) mit ihren beiden im weißen Schulmädchen-Dress gekleideten Helferinnen Yu und dessen Umfeld schon lange von einem dunklen Bus aus observiert, hat die Begegnung Yus mit Yoko eingefädelt und führt nun Böses im Schilde. Und, noch verhängnisvoller: Yoko kann Yu nicht nur nicht ausstehen, die beiden sind auch noch angeheiratete Geschwister...
Regisseur Sion Sono steuert seine abgehobene Geschichte - eine Art philiosophische Farce im epischen Gewand - Kapitel für Kapitel (insgesamt sind es fünf Akte, aus denen der Film besteht) in den kontrollierten Wahnsinn. Je bekloppter das Ganze wird, desto mehr Spaß macht es aber auch. Einen gewissen Mut zur Peinlichkeit braucht er schon, um seinen überfrachteten Frontalangriff auf die Sehgewohnheiten des Zuschauers konsequent vorantreiben zu können - letzterer wiederum braucht ein gewisses Maß an Geduld: Der Film schrammt haarscharf an der Vier-Stunden-Grenze vorbei und läuft zudem in japanischer Sprache mit deutschen Untertiteln. Der Nachteil dabei ist gelegentlich die Einschränkung der Konzentration auf die Bilder, der Vorteil ist der Eindruck des Unverfälschten. Angeblich soll die Rohfassung des Films sogar sechs Stunden gedauert haben. Das Gerücht um einen bald erscheinenden Director`s Cut hat Sono aber dementiert.
"Love Exposure" ist das originellste und inspirierendste Stück Kino, das in den vergangenen zwölf Monaten über deutsche Leinwände flimmerte. Man nehme die Ausbildung Yus zum Upskirt-Fotografen und seine immer akrobatischer und absonderlicher werdenden Manöver zum Erhaschen der besten Höschenbilder, von Sono im extravaganten Kungfu- und Kickbox-Rhythmus inszeniert. Ein Countdown ("noch so-und-so-viele Tage/Stunden/Minuten...") kündigt ein nahendes "Wunder" an. Nachdem rund 60 Minuten Ravels "Bolero" im Hintergrund vor sich her lief, stoppt die Musik augenblicklich an einer einsamen Straßenkreuzung in Tokio und offenbart das "Wunder". Dieses Wunder ist Yoko bzw. Yus Begegnung mit Yoko, "seiner Maria", die ihm seine Mutter als Kind versprochen hat, die sich mit ausgebreiteten Armen den lauerenden Schlägern stellt, während Sono immer wieder kurz die Mutter Gottes-Statuette aus der Kirche von Yus Vater überblendet. Im Kontext mit Yus darauffolgender Erektion wird das Marienbildnis in einem übertragenen Sinn zum Sexualideal - nicht der einzige Seitenhieb Sonos auf Religion und/oder religiösen Fanatismus im Film. Dann erst die Titeleinblendung: "Love Exposure".
Yoko liebt nicht Yu, sondern Sasori, die mythologische Frauengestalt aus den gleichnamigen Sexploitation-Samurai-Filmen der 70er-Jahre, als die sich Yu verkleidet hat. Die Verwechslung ist ein Produkt von Yokos Hass auf Männer, der aus den Demütigungen ihres Stiefvaters erwachsen ist. Yoko schwärmt für Patti Smith, Joan Jett, Chrissie Hynde - die Sängerin der Pretenders (allesamt starke Frauenfiguren) - und Kurt Cobain - der einzige coole Mann neben Jesus, wie sie sagt. Bei solcherlei Kreuzungen von eigentlicher „Handlung“ und Popkulturreferenzen, die auf die persönlichen Vorlieben des Regisseurs schließen lassen, erweist sich Sono als fernöstlicher Tarantino. An einer Stelle fragt Yoko ihre Mutter, ob Lesbischsein „pervers“ sei. Die „Perversen“, das sind in „Love Exposure“ aber nicht die Andersartigen, sondern die Freigeistigen in einer pervertierten Gesellschaft.
Die fast schon barocke Inszenierkunst Sonos vereint sich mit Musik unterschiedlichster Couleur. Dabei stehen sich klassische Musik, sakrale Choräle, Hardrock und J-Pop (u.a. von der exzellenten einheimischen Band „Yura Yura Teikoku“) genauso wenig gegenseitig im Weg wie die auf den ersten Blick inkompatiblen Genres und Stilrichtungen.
Fazit: Sion Sono verarbeitet in "Love Exposure" Stoff, der gut und gerne für fünf einzelne Filme gereicht hätte. Das Ergebnis ist ein Film gewordener LSD-Rausch mit Suchtgefahr, der kurzweiliger daherkommt als mancher Kurzfilm. Wer Sitzfleisch hat, gezielte Grenzüberschreitungen wie etwa eine sehr blutige Kastrationsszene nicht scheut und gerne mal über den Tellerrand der cineastischen Massenabfertigung schaut, sollte Sonos monströser Pulp-Opera unbedingt eine Chance geben.