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Sein Leben in meiner Gewalt

Sein Leben in meiner Gewalt

Ein Film von Sidney Lumet

(USA/GB, 1972)



„This is a fact / A storm called truth"
(Nick Cave & The Bad Seeds, 'Do You Love Me')


„Bodies. Stinking, swollen, black, putrid, and the smell of death. Filthy, swarming, slimy maggots in my mind. Eating my mind.“


Es gibt Berufe, die können gefährlich sein. Für den Köper, für die Seele. Wer zum Beispiel bei der Polizei arbeitet, wird in seinem Leben Dinge sehen, die andere Menschen um den Schlaf bringen können. Mord, Gewalt, Leichen, Blut, bis zur Rente. Man macht es sich zu selten klar und in der Öffentlichkeit spielt es zu oft keine Rolle. Aber die Gesellschaft erwartet mit gewissenloser Selbstverständlichkeit, dass diese Leute Tag für Tag für eher kleines Geld ihre Arbeit machen.

Sidney Lumets The Offence (Sein Leben in meiner Gewalt, 1972) handelt vom Londoner Polizisten Sergeant Johnson (Sean Connery), der in seinen zwanzig Jahren Dienst all die Gewalt und Grausamkeit, die er zu sehen bekam, nicht verarbeiten konnte. Gerade fahndet er nach einem Kinderschänder, der in der Vorstadt sein Unwesen treibt. Der Polizei geht ein Mann namens Kenneth Baxter (Ian Bannen) ins Netz, auf den die Beschreibung passt und dessen Alibi dünn erscheint. In einem inoffiziellen Verhör verprügelt Johnson den mutmaßlichen Täter so schwer, dass er im Krankenhaus an seinen Verletzungen stirbt.

The Offence beg
innt konventionell, doch das ändert sich nach einer halben Stunde fast schlagartig. Aus einem gewöhnlichen Polizeifilm wird ein gespenstisches Kammerspiel. Nachdem Baxter im Krankenhaus landet, wird Johnson suspendiert. Er streitet sich zu Hause mit seiner Frau Maureen (Vivien Merchant), wird danach von dem Verhörspezialisten Superintendant Cartwright (Trevor Howard) in die Mangel genommen. Der macht zuerst keinen Hehl aus seiner Verachtung gegenüber Johnson und seiner Tat, steht am Ende aber nur versteinert da: „Es ist unfassbar, aber es kann vorkommen, wir wissen es alle.“

Was es ist, das „vorkommen“ kann, sehen wir in der Rückblende: dem Verhör, ein fast zwanzigminütiges Duell zwischen Connery und Bannen, bei dem der Zuschauer bald nicht mehr weiß, wer hier eigentlich Macht über wen hat. Irgendwann wird Johnson erkennen, was eigentlich in ihm vorgeht, dass er nicht besser ist als der Abschaum, den er zwanzig Jahre lang gejagt hat, welche Gedanken und Wünsche in ihm brodeln. Er und Baxter, der mutmaßliche Kinderschänder, stehen sich gegenüber wie Spiegelbilder. In einem letzten Abwehrreflex erkennt Johnson nur einen Weg: das Spiegelbild zerstören. Ein Selbsterkenntnis-Horrortrip.

Deshalb trug das Projekt auch lange den Arbeitstitel: „Something Like the Truth“.

Sein Leben in meiner GewaltSein Leben in meiner GewaltSein Leben in meiner Gewalt
Die Geschichte, ursprünglich das Theaterstück This Story of Yours von John Hopkins, diese Geschichte um dunkle Phantasien und Abgründe kleidete Lumet in morbide, unwirkliche Szenerien. Die Kamera fängt fast nichts ein, was schön zu nennen wäre. Triste Vororte und ein dauerverregnetes London, in dem es nur funktionalistische Architekturverbrechen zu geben scheint. Das Hochhaus, in dem die Johnsons wohnen, sieht fast futuristisch aus. Der karge Verhörraum wird von einer überdimensionalen Lampe beherrscht. Ein großes Auge, das alles sieht. Bis ins Innere hinein. Das visuelle Leitmotiv des Films. Die Dialoge wiederrum waren schon immer Lumets Paradedisziplin, sind sind es erst recht hier.

Zu Geschichte und Bildern passt die Musik des modernistischen Komponisten Harrison Birtwistle, der leider zum ersten und letzten Mal für einen Film den Score machte. Eine Mischung aus finsteren Flötentönen und psychotischen, atonalen Geräuschen. Ein Soundtrack, der sehr unaufdringlich arrangiert ist, dafür umso tiefer wirkt. Eine bessere akustische Begleitung für so einen Stoff kann es gar nicht geben.

All das zusammen ergibt einen Film, für den die Prädikation „atmosphärisch“ erfunden worden sein muss. Schon der Vorspann ist ein kleines Meisterwerk. Wir sehen eine Szene im Londoner Polizeirevier, während sich Johnson im Verhörraum an Baxter vergeht, und zwar in quälend langsamer Zeitlupe. Die Beamten hören zuerst nur Geräusche und eilen zum Ort des Geschehens, doch sie kommen zu spät. Der Zuschauer kann diese Szenen zuerst nicht einordnen, und in der Slow Motion und mit Birtwistles Musik wirken sie umso verstöhrender.

Als Schauspieler war Sean Connery vielleicht nie besser, oder kantiger. Seine Figur spielt er mit einer grobklotzigen Art, die er als James Bond nie zeigen konnte. Sein Sergeant Johnson ist ein Heißsporn und Zyniker. Seine Motive sind moralisch, sein Handeln hingegen fragwürdig. Als Baxter festgenommen wird, hat er keine Zweifel an seiner Schuld, ein bisschen Intuition und viel Wunschdenken reichen ihm. Er weiß, dass Baxter schuldig ist, er muss es sein. Dieser unterschwellige Fanatismus ist ihm in fast jeder Szene anzusehen.

Ian Bannen als Verdächtiger ist sein genialer Gegenpart, sein Herausforderer, sein Spiegelbild. Von Minute zu Minute wird er einem unheimlicher, weil er sich immer mehr an Connery und seine Schwachstelle herantastet. Schade, dass man ihn danach nicht in weiteren, markanten Rollen sehen durfte.

Sein Leben in meiner GewaltSein Leben in meiner GewaltSein Leben in meiner Gewalt
Lumet steht zu Recht im Ruf, ein Schauspielerregisseur zu sein. Er trieb schon andere zu übergroßen Leistungen an, wie Al Pacino, Henry Fonda, Paul Newman oder Richard Burton. Er war es auch, der als erster Connerys Talent erkannte, das weit über gerührt-und-nicht-geschüttelt hinausging, und der ihm 1965 seine erste ungewöhnliche Rolle in The Hill gab. Doch selten spielte der Schotte in so stimmungsgeladenen Dialogfilmen wie diesem. Um den Beweis seiner Schauspielkunst antreten zu können, musste er United Artists zusichern, einen weiteren James Bond zu drehen. So sah Connerys Opferbereitschaft aus.

Fragt man Cineasten nach den besten Filmen von Sidney Lumet, der schon so oft so knapp am Oscar vorbeischrammte, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit deckungsgleiche Antworten kommen. Jeder respektiert sein Debüt 12 Angry Men (Die zwölf Geschworenen, 1958), das berühmte One-Room-Drama. Dann die Perlen aus den Siebzigern. Die Agatha Christie-Verfilmung Murder on the Orient Express (Mord im Orientexpress, 1974). Das Polizeikorruptionsdrama Serpico mit Al Pacino (1973), ein für Lumet typisches Sujet. Die Bankräubergeschichte Dog Day Afternoon (Hundstage, 1975) oder die Mediensatire Network (1976), beides gern genannte Favoriten in Bestenlisten von Filmkritikern. Und es gibt noch so viel davor und danach. Das Gerichtsdrama The Verdict (1982), das Paul Newman fast den Oscar beschert hätte. Oder seine frühen Arbeiten: der Kalte Krieg-Thriller Fail Safe (Angriffsziel Moskau, 1964) oder die Charakterstudie The Pawnbroker (Der Pfandleiher, 1964). Oder das bereits genannte Militärdrama The Hill (Ein Haufen toller Hunde, 1965). Wer Wert auf Originalität legt, nennt auch mal Prince of the City (1981) oder Equus – Blinde Pferde (1977). Man sieht, der Mann war verdammt produktiv. Dass er auch mal unteres Mittelmaß produzierte, ist ihm voll und ganz zu verzeihen.

The Offence kommt leider zu selten in solchen Aufzählungen vor. Ein Erfolg an den Kinokassen wurde er selbstredend nicht. Dafür aber einer der beklemmendsten und sinistersten Krimithriller überhaupt. Eine psychologische Geisterbahnfahrt, nach der einem wirr im Kopf ist.

Eine Rezension von Gordon Gernand
(15. September 2008)
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Daten zum Film
Sein Leben in meiner Gewalt USA / GB 1972
(The Offence)
Regie Sidney Lumet Drehbuch John Hopkins (Script & Literaturvorlage)
Produktion Tantallon Kamera Gerry Fisher
Darsteller Sean Connery, Ian Bannen, Trevor Howard, Vivien Merchant
Länge 112 Min. FSK ab 16
Filmmusik Harrison Birtwistle
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