Shinya Tsukamoto ist der wohl konsequenteste und innovativste Autorenfilmer des postmodernen japanischen Films. Sein Stil ist unverwechselbar und sein Misstrauen, ein Filmprojekt in die Hände von anderen kreativen Mitarbeitern anzuvertrauen, legendär.
Tsukamoto führt nicht nur in der entscheidenden Dreieinigkeit des Filmprozesses die Oberhand – Drehbuch, Regie und Produktion – sondern überlässt auch bei der Kamera und dem Schnitt das Feld kaum einer anderen kreativen Hand. Als wenn dies nicht schon genug Auslastung bedeuten würde, wirkt Tsukamoto auch in den meisten seiner Filme ("Tokyo Fist", "Gemini", "Nightmare Detective") als abgehalfterter Antiheld oder gemeiner, perverser Antagonist mit. Diese pessimistischen Rollen sind auch immer die entscheidenden nicht nur in Tsukamotos Filmen, sondern generell im japanischen Film.
Mit
“Tetsuo“ hat Tsukamoto seinen Ruf als kontroverser, provokanter enfant-terrible auch international etabliert.
Dieser zweite Langfilm könnte mit seinem hohen Grad an Surrealismus, Symbolik, Extravaganz und Kreativität auch bedenkenlos als Installation in einem Avantgarde-Museum untergebracht werden und zählt heutzutage zu einem einflussreichen Vertreter des Cyberpunk-Films. Das ist damals aber wohl kaum in Tsukamotos Interesse gelegen.
Die Handlung ist eigentlich genauso schnell erzählt wie zweitrangig für den Film. Auf dem Schrottplatz eines vermüllten, verlassenen Industriegeländes begeht ein Fabrikarbeiter (Shinya Tsukamoto) ein groteskes Experiment. Er schlitzt sich den Unterarm auf und implantiert sich mit der anderen Hand ein rostiges Metallrohr. Ein fataler Einfall, denn der Rost des Metalls bewirkt ein Abfaulen des Unterarms und führt, begleitet von einem vehementen Madenbefall, dazu, dass das Metall nun wie eine Viruserkrankung sich auf den ganzen menschlichen Körper ausbreitet. In Panik geraten über diese radikale Konsequenz, stürzt der Industriearbeiter Hals über Kopf auf die Straßen Tokios. Hier wird er angefahren von einem Büroangestellten (Tomorowo Taguchi), der, mit der Ehegattin (Kei Fujiwara)auf dem Beifahrersitz, sein Auto viel zu schnell über die Fahrbahn lenkt.
Voller Selbstvorwürfe und Angst vor der Strafe des Gesetzes entscheidet sich das Ehepaar, den schwer Angefahrenen in ihrem Auto vom Tatort zu entfernen und in einem entlegenen Waldstück sich selbst zu überlassen. Nach verrichteter Tat bemerken die Beiden jedoch, dass das Unfallopfer noch lebt und sie stumm und hilflos beobachtet. Das bringt sie in höchste sexuelle Wallung und übermannt sie, ihre Begierde vor dem Unfallopfer in einem leidenschaftlichen Sexakt im Stehen auszuleben.
Doch dieses feige, hinterhältige Verbrechen bleibt nicht ungesühnt. Der vermeintliche Tote kehrt in Gestalt des Metal Fetischisten zurück und rächt sich an seinen Mördern.
Auf mysteriöse, unerklärliche Weise überträgt dieser seine Metall-Infektion nämlich zunächst auf eine Passantin (Nobu Kanaoka), die dann wiederum den Fahrerflüchtigen und über diesen auch seine Frau infiziert und damit eine Metamorphose von Mensch und Metall in Gang setzt.
Hiermit hört auch der “konventionelle“ Teil des Plots auf und leitet eine konfus-surreale materialistische Heavy-Metal-Aufrüstung des Protagonisten und Antagonisten ein, die sich in einem grotesken Showdown entlädt.
Man kann schwer sagen wie viel ein Film vom psychischen Zustand seines Urhebers widerspiegelt. In Tsukamotos Werk entfalten sich auf wiederholte, überbordende Weise und in clever gewobenem Subtext eine hoch fetischisierte Neigung zur Selbstzerstörung, freudschem Penisneid und Kastrationsangst, Mann-Frau-Rollentausch, Macht, Gewalt und Sex, ebenso wie verklemmt-aggressive Homoerotik.
Sein Film ist ein Angriff auf die Wertevorstellung der Gesellschaft und die Sinne des Zuschauers. Dabei verwendet er sehr gekonnt klaustophobische Räume und kalte, leblose Locations (wie den Schrottplatz zu Beginn, leere, triste urbande Straßen und stillgelegte, herunter gekommene Fabrikhallen). Tsukamoto weigert sich zudem einen chronologischen Plotverlauf und schlüssige Dramaturgie einzuhalten und bricht den bereits konfusen Handlungsstrang nochmals mit zahlreichen Inserts aus TV-Nachrichten-Berichten und mit kaum zuzuordnenden bizarren Nahaufnahmen von metallenen Gegenständen wie Drähte, Schrauben, Stangen und phallische Bohrer auf. Desweiteren wechseln sich Albtraum- und Realsequenzen so oft und unerwartet ab, dass man beim Zuschauen schon bald den roten Faden verliert. Zudem streut Tsukamoto diverse odyssee-haften Ausflüge in das pathologische Innenleben der beiden Hauptcharaktere noch in das anarchistische Potpourri ein.
Der finale Eindruck, der bleibt, ist ein Konglomerat aus verstörenden, perversen Einzeleindrücken, die in ihrer rasanten Montage und unmittelbaren Intension die Abwehr des Zuschauers durchbrechen und sich langfristig in das Unterbewusstsein einbrennen.
Neben den surrealen, stellenweise den Zuschauer anspringenden Bildern in düsterem Schwarzweiß, sorgt auch der penetrante, hämmernde Industrial-Sound mit sarkastischen romantischen Klanganleihen für einen pausenlosen Beschuss und weitere Verwirrung.
Doch trotz all der Konfusität und sinnlicher Überbeanspruchung des Zuschauers kann man sich sehr wohl einen Reim auf die Story machen.
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Tetsuo“ ist im Prinzip eine alptraumhafte Dystopie einer Welt, in der die fortschreitende Industrialisierung einen ungebremsten Siegeszug über das Individuum und dessen prägenden Emotionalität geschafft hat. Eine Welt, die nicht mehr erfüllt ist von Empathie, sondern mit kalten, brutalen Fragmenten, die die Menschen aufbrechen, aufsaugen und deren Aggressionstriebe zum Vorschein bringen. Sexualität und Gewalt wird auf unvorstellbare Höhen getrieben, die die Menschen zu einer perversen, fetischisierten Abhängigkeit von den industriellen Hilfsmitteln treibt.
Tsukamoto arbeitet diese Gesellschaftskritik brillant mit inhaltlichen (anarchistischer Handlungsverlauf, wirre Inserts, verstörte, in ihrer Identität bedrohte Charaktere und konfuse Dramaturgie) und formalen Mitteln (audio-visuelle Angriffe auf die Sinne des Zuschauers) sehr expressiv auf.
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Tetsuo“ ist damit unterm Strich ein beachtliches Meisterwerk ohne vergleichbare Mitstreiter. Die frühen Werke von David Cronenberg (“Naked Lunch“ und “Videodrome“), sowie David Lynch’s Debütfilm (“Eraserhead“) tragen zwar eine ähnliche Handschrift, können aber mit Tsukamotos inhaltlich-formaler Konsequenz nicht mithalten, da sie vielmehr eine schlüssige Geschichte erzählen wollen, als – wie in Tsukamotos Fall – einen sarkastischen Kommentar an die Urtriebe des Menschen und dessen Abstieg in bevorstehenden perversen Metall-Fetisch zum Besten geben.
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Visuelle Bildgewalt: 10 (irre Montage, paranoide Nahaufnahmen und absurde Stop-Motion-Einlagen - da dreht sich einem alles im Magen)
Gewalt-Sex-Anteil: 8 (Sex im Stehen, Penetration von Mann und Frau durch metallische Tentakel und ein Phallus in Gestalt eines routierenden Riesen-Bohrers - nur Hentais sind expliziter)
Gruselfaktor: 7 ("irre" und "gestört" sind eher die passenderen Ausdrücke, doch die beklemmende Atmosphäre kann einen schon umhauen)
Homoerotik-Anteil: 8 (Körpernähe zu ironisch-romantischen Klängen, diverse Penetrationssezen und im Showdown eine wortwörtliche Verschmelzung der Hauptcharaktere zu einem hodensackähnlichen Panzer mit einem Rohr auf dem Gipfel geben einen netten Vorgeschmack)
Party-Tauglichkeit: 4 (vorausgesetzt die Gäste sind angetrunken oder verstehen geschmacklosen Humor)