Italowestern- König Sergio Leone, dem wir solch unabdingbare Meisterwerke wie
Zwei glorreiche Halunken und
Spiel mir das Lied vom Tod zu verdanken haben, wollte nach letzt genanntem Film, den er selbst als eine Art endgültiges Requiem auf das Genre sah, welchem er zu Rang und Namen verholfen hatte, keine weiteren Spaghetti- Western mehr drehen. Alles war gesagt, was gesagt werden musste. Der Wilde Westen hatte in der grandiosen Cowboy- Oper mit Charles Bronson und Henry Fonda in zwei unvergesslichen Rollen seine letzte Ölung erhalten, ballte Leone doch hier noch einmal all seine Wehmut und Nostalgie, die bei ihm mit der Verarbeitung der Mythen dieses Genres seit jeher einhergegangen war, in einem minutiös durchkomponierten Showdown der Superlative, mit dem er gleichzeitig den “amerikanischen Traum”, wie man ihn sich vorstellt, in den gähnenden Abgrund rauschen ließ.
Fortan widmete sich Leone einem Projekt, das ihm wohl schon eine Ewigkeit im Kopf herumgespukt sein musste, welches er aber bislang nicht imstande war zu realisieren: “Es war einmal in Amerika”, ein breit angelegtes Gangster- Epos, basierend auf dem Roman “The Hoods” von Harry Grey, welches von fünf befreundeten Gaunern, die in der Zeit der Prohibition aufwachsen, erzählt. Doch als das Werk im Jahr 1984 schließlich fertig gestellt wurde, l
egten die Studiobosse dem Italo- Amerikaner einige Steine in den Weg. Da die Urversion knappe vier Stunden Film umfasste (diese enorme Länge galt als Kassengift), die nicht chronologisch abgehandelt wurden, und die Produktionsfirma obendrein noch anti-amerikanische Elemente in jener Fassung erspäht geglaubt hatte, musste Leone eine Planänderung durchführen und den Film auf verhältnismäßig “mickrige” zwei Stunden herunterschneiden. Dabei hatte der Regisseur ursprünglich sogar rund sechs Stunden Material angehäuft, welches er auf zwei Teile á drei Stunden aufspalten wollte. Doch daraus wurde folglich erst recht nichts. In dieser zerstückelten Zwei- Stunden- Fassung lief “Es war einmal in Amerika” also in den US- Kinos und floppte erwartungsgemäß, während in Europa die ungekürzte Version gesehen und bejubelt wurde. 2003 entschied sich der Verleih, den Film als Director`s Cut neu aufzulegen- nun liegt das 220- minütige Mammutwerk endlich in seiner ganzen Pracht vor. Und auch wenn die Voraussetzung für den Genuss dieses von der Kritik zu Unrecht reserviert aufgenommenen Films natürlich viel Sitzfleisch ist: “Es war einmal in Amerika” ist Leones persönliches Husarenstück, dessen künstlerischer Wert wahrscheinlich sogar höher einzuschätzen ist als der seiner stilbildenden “Dollar“- Trilogie- dies ist der vielleicht eindrucksvollste, aber auf jeden Fall ergreifendste und für den Autor dieses Textes sogar beste Film von Leones Schaffen.
Es war einmal…
Die Handlung erstreckt sich über mehrere Epochen, zwischen denen Leone beliebig hin und her springt, ohne dass dies zu Lasten des homogenen Gesamteindrucks gehen würde. Sie handelt von den Kumpels Max, Noodles, Dominic, Cockeye und Patsy, die in der New Yorker Lower East Side der 20er Jahre heranwachsen. Da ihr stetiger Begleiter die Armut ihres Viertels ist, beschließen die Freunde, sich mit krummen Dingern etwas dazuzuverdienen. Mit kleineren Schmuggeleien, Betrug und Diebstahl nimmt die kriminelle Karriere schon früh ihren Lauf. Gefährlich wird es für sie, als sie auf die rivalisierende Bande des brutalen Bugsy (James Russo) treffen, der kurzerhand einen bösartigen Kleinkrieg anzettelt. Und als Dominic Bugsy`s geladener Pistole zum Opfer fällt, schwört Noodles Rache und ersticht den Mörder seines Kumpels. Das richterliche Urteil lautet: 10 Jahre Knast…
Nachdem er diese schier endlose Zeit hinter Gittern abgesessen hat, holt Max (nun, als Erwachsener: James Woods) Noodles (Robert De Niro) raus. Wir schreiben die frühen 30er. Stolz zeigt er dem Ex- Gefangenen, dass er und seine Freunde sich inzwischen ein gut laufendes Syndikat aufgebaut haben, dessen Geschäfte sich vor allem auf den illegalen Handel mit Alkohol beschränken und das Macht auf die ganze Stadt ausübt, was auch diversen Auftraggebern nicht verborgen bleibt, etwa den Minaldi- Brüdern (u. a. Joe Pesci), die die Bande um Max und Co. für einen Deal gewinnen wollen, bei dem es um die Beschaffung von wertvollen Diamanten geht. Noodles jedenfalls trifft sie alle wieder, Cockeye (William Forsythe), Patsy (James Hayden)- und auch Deborah (Elizabeth McGovern), die Schwester seines ehemaligen Freundes Fat Moe (Larry Rapp), seine Jugendliebe, die schon immer den Wunsch hatte, nach Hollywood zu gehen. Dann jedoch plant Max ein großes Ding- und Noodles sieht sich gezwungen, seinen Freund bei der Polizei zu verraten, da er nicht will, dass er bei der Aktion draufgeht. Doch es kommt anders: Die Bullen erschießen Max und seine Kumpels, woraufhin Noodles in die Unterwelt abtaucht.
Weitere 35 Jahre gehen ins Land. Wir sehen einen deutlich gealterten, ergrauten Noodles, der nach New York, an die Stätten seiner Kindheit und Jugend und seines jungen Erwachsenendaseins, zurückkehrt. Dort findet er durch Zufall einen verloren geglaubten Geldkoffer, worin sich eine geheimnisvolle Einladung zu der Party eines gewissen Senators Bailey befindet, der mit seiner einstigen Liebe Deborah, die sich damals von ihm abwandte, zusammen leben soll. Noodles geht der Sache nach und wird mit seiner Vergangenheit konfrontiert…
“Es war einmal in Amerika”- wie der Filmtitel bereits verrät, erzählt uns Leone in seiner fast vierstündigen Saga eine Geschichte nicht nur
aus Amerika, sondern
über Amerika, über uramerikanische Werte, Traditionen und Wunschvorstellungen, eingetaucht in die Historie des Landes, die Leone in mehreren Ären- mithilfe von penibler Ausstattung und überwältigend authentischen, detailversessenen Settings, deren atmosphärische Dichte einen bedingungslos gefangen nimmt- wiederaufleben lässt. “Es war einmal in Amerika” ist aber auch eine zeitübergreifende Geschichte über elementare Themen wie Freundschaft und Liebe, Vertrauen und Verrat, Schuld und Sühne- und könnte somit universeller kaum sein. Nehmen wir beispielsweise die Szene, in der Noodles Max an die Polizei ausliefert. Er verrät ihn nicht aus Hass oder weil er ihm eine Lektion erteilen will- in welcher Form auch immer- sondern aus innigster Freundschaft und Nächstenliebe heraus. Er möchte verhindern, dass sein langjähriger Freund, den er seit seiner Kindheit kennt, in seinem blinden Größenwahn sich- und möglicherweise die gesamte Sippschaft- ins Verderben führt. Dass Max bei dem Einsatz stirbt, ist lediglich eine von vielen (unglücklichen) Fügungen des Schicksals, die der Lauf der Zeit mit sich bringt.
So etwas wie ein ethischer Verhaltenskodex, wie wir ihn von den streng durchorganisierten Mafia- Clans in Coppolas “Pate”- Trilogie kennen, existiert hier im Übrigen auch nicht. Genau genommen sieht man die Verbrecher in “Es war einmal in Amerika” nicht vordergründig als solche an, sondern als Menschen aus Fleisch und Blut, denen es nicht in erster Linie um die Wahrung der Ehre und/oder den Fortbestand ihrer kriminellen “Rasse” geht, sondern um die Suche nach eigener Identität und die Frage nach der Verantwortung, die jeder für sich und sein eigenes Leben trägt. Als Noodles als alter Mann in seine Heimat zurückkommt, werden Erinnerungen in ihm wach- und er beginnt, sein Leben zu reflektieren. Habe ich in meinem Leben immer richtig gehandelt? Was, wenn ich mein Leben nochmals leben könnte? Das sind ganz normale Fragen, die sich ein jeder irgendwann stellen wird- und die auch Noodles sich in diesem Moment stellen dürfte. Aus dem Off ertönt die sentimentale Melodie aus “Yesterday” von den Beatles. Eine wuchtige Szene voller Melancholie, die mit Sicherheit auch die Sehnsucht eines Mannes zum Ausdruck bringt, früher gehegte Träume endlich zu verwirklichen. Man denke nur an Noodles` unglückselige Beziehung zu Deborah, zu jener Frau, die er begehrte, seit er ein Kind war, die er durch eine Nische in der Wand beim Balletttanz beobachtete, die er jedoch nie für sich gewinnen konnte, weil sie sich, obgleich sie durchaus Gefühle für Noodles hatte, gegen ihn- und für eine Karriere als Schauspielerin- entschied. Man kann darüber spekulieren, ob dieser Abstand, den Deborah über die Jahrzehnte hinweg zu Noodles gepflegt hat, mit dessen eigenem Werdegang zu tun hat. Denn schließlich hat sie auch honoriert, dass er sein Leben für sie auf`s Spiel gesetzt hat.
“Es war einmal in Amerika” gibt Anregung, nach eigenen Interpretationsansätzen zu suchen- die Art und Weise, wie der Betrachter die Story in sich aufnimmt, wird demnach nicht bei jedem dieselbe sein. Als knallharte Milieustudie, welche schonungslos die Brutalität und Ausweglosigkeit seiner Protagonisten schildert, ist der Film durchaus in der Realität verortet. Wenn man sich aber den Aspekt heranzieht, dass Noodles quasi sein eigenes Leben in Rückblenden Revue passieren lässt, kann das Geschehen wiederum in einem ganz anderen Kontext gesehen werden. Leone wandert hier auf dem schmalen, kaum wahrnehmbaren Grat zwischen wirklichkeitsbezogener Inszenierung und grenzenloser Phantasie, wenn er einerseits die krassen Bilder der schwierigen sozialen Verhältnisse eines von Armut und Gewalt gezeichneten Ghettos wirken lässt- und andererseits Noodles` aus der Gegenwartsperspektive resümierte, fiebertraum- ähnliche Erinnerungen abspult, die er durch eine emotional eingetrübte, von unerfüllten Wünschen und Sehnsüchten geprägte Sicht der Dinge wiedergibt, welche sich untrennbar mit der bitteren Realität zu einem gewaltigen, opulenten Bilderbogen vermischt, die trotz der quälenden Nüchternheit, die viele drastische Szenen evozieren, eine atemberaubende Schönheit ausstrahlt. Am Ende befinden wir uns wieder dort, wo der Film begonnen hat: In der Opiumhölle in Chinatown. Wir sehen Noodles, liegend, berauscht von der Haschpfeife. Die Zeit scheint still zu stehen. Die Kamera fährt gemächlich über sein Gesicht, auf dem ein leises Lächeln sichtbar wird. Es ertönt die elegische Musik von Ennio Morricone. Abspann.
Mit einer fantastischen Starriege aus schauspielerischen Schwergewichten (Robert De Niro, James Woods, Joe Pesci etc.) drehte Sergio Leone im Jahre 1984 ein überlebensgroßes, monumentales Gangsterdrama über den Aufstieg und Fall einer Gruppe von fünf fest miteinander verschweißten Gangstern, die sich im Laufe der Jahrzehnte auf tragische Weise auseinanderleben, weil sie der Verlockung von Geld und Macht erlegen sind und damit hoffen, die letzte Chance beim Schopf ergreifen zu können, ihr Leben doch noch in die richtige Bahn zu lenken und den längst verstrichenen Glauben an persönliche Ideale wieder zu erlangen. “Es war einmal in Amerika” ist kein Gangsterfilm á la
Der Pate oder
Scarface, auch wenn er inhaltlich und stilistisch sicher von den klassischen Genrekollegen inspiriert ist. Sergio Leone, dessen Name man sonst mit sarkastisch- lakonischen Italowestern in Verbindung brachte, inszenierte eher
seine Vision des Gangsterfilms, mit
seiner persönlichen, unverkennbaren Handschrift- und legte damit ein bildgewaltiges, zeitloses Meisterwerk hin, das lange Zeit sträflich unterschätzt wurde. Ein vor archaischer Kraft und Herzblut pulsierender, ja beinahe zerberstender Film, der gerade in seiner enormen Überlänge eine immense charakterliche Tiefe und epische Wucht aufbaut und der zugleich schmerzhaft realistisch als auch märchenhaft- phantastisch ist. Unvergessen auch die traumhafte Musik von Ennio Morricone, die die gesamte Wehmut und schicksalhafte Tragik der Geschichte punktgenau zum Ausdruck bringt.