Es erscheint einem endlos viel, was man zu Sergej Eisensteins Film PANZERKREUZER POTEMKIN schreiben könnte, so dass es anfangs schier unmöglich anmutet, all die Gedanken zu ordnen und sie adäquat festzuhalten. Man möchte im Grunde am liebsten gleich kapitulieren vor dieser Mammutaufgabe und den Film für sich alleine sprechen lassen. Allzu großes Unrecht würde man ihm damit nicht zuteil werden lassen. Und doch ist im Laufe der Jahre viel über diesen Film geschrieben worden. Kann man diesen jahrzehntelangen Diskurs überhaupt noch etwas Neues hinzufügen? Oder läuft man nicht eher Gefahr bereits Geschriebenes nur noch einmal aufzuwärmen?
PANZERKREUZER POTEMKIN ist einer jener Filme, die aus der Filmgeschichte nicht mehr wegzudenken sind. Dieser Film erzählt nicht nur eine bewegende Geschichte, er hat selbst eine vorzuweisen. Er selbst ist Geschichte. Ausgangspunkt der Handlung ist eine Meuterei der Matrosen des Panzerschiffs Potemkin, die gegen die menschenunwürdigen Verhältnisse an Bord protestieren. Auslöser der Meuterei ist madiges Fleisch, das den Matrosen vorgesetzt wird, während die Offiziere sich an feinen Schlemmereien erfreuen. Die Meuterei – letzten Endes zwar erfolgreich - eskaliert und unter den Matrosen ist das erste Opfer zu beklagen. Als Märtyrer der Revolution wird der Tote im Hafen von Odessa aufgebahrt, wo man ihm die letzte Ehre erweist. Berührt schließen sich die Bürger Odessas in Massen der Totenehrung und bald auch der m
euternden Besatzung der Potemkin an. Doch dauert es nicht lange bis die zaristische Armee im Küstenstädtchen eintrifft und brutal gegen die aufbegehrenden Massen vorgeht.
2005, zu seinem 80-jährigen Jubiläum, wurde der Film erstmals restauriert und nahezu vollständig in seiner ursprünglichen Fassung wiederhergestellt. Obwohl der Film auch in geschnittener Form eine unglaubliche Wirkung auf das – nicht nur - zeitgenössische Publikum entfaltete und seine handwerkliche Meisterhaftigkeit durchscheinen ließ, darf man nun endlich getrost behaupten, dass erst jetzt das Meisterwerk in seiner Gänze erfasst und gewürdigt werden kann. Dabei gestand man PANZERKREUZER POTEMKIN zu Beginn keine großen Erfolgschancen zu, auch nicht in der Sowjetunion. Der Film folgte nicht den bewährten Handlungsmustern des Hollywoodkinos der 1920er, das dem russischen Kino zu dieser Zeit nicht unähnlich war. Gegliedert in fünf Akte, orientiert sich der Film am Schema des klassischen Dramas. Nicht einmal durch eine Liebesgeschichte werde er aufgelockert, hieß es. Und doch wurde die Moskauer Premiere am 19. Januar 1926 ein großer Erfolg, dem sich verwunderlicher Weise kein landesweiter Erfolg anschloss. Dieser kam erst als PANZERKREUZER POTEMKIN ein unerwartet großer Erfolg in den deutschen Kinos beschieden war. Die Verleihrechte mitsamt dem Originalfilmmaterial hatte man nach Deutschland verkauft und sich lediglich die Rechte sichern lassen, Kopien für den russischen Markt anfertigen zu dürfen. Für den Fortbestand des Filmes in seiner ursprünglichen Fassung ein fataler Entschluss, wie sich zeigen sollte. Die kürzenden Eingriffe erfolgten nämlich an dem Originalmaterial und nicht etwa auf einer eigens dafür angefertigten Kopie. Um in Deutschland zur Aufführung zu gelangen, musste PANZERKREUZER POTEMKIN an mehreren Stellen stark geschnitten werden. So fielen z.B. Szenen, in denen Offiziere von meuternden Matrosen überwältigt und über Bord geworfen werden der Schere zum Opfer. Szenen, die in den konservativen Kreisen von einer sich immer noch durch ein hohes, militärisches Selbstverständnis auszeichnenden Elite ungern gesehen worden sind und denen man in der politisch angespannten Situation innerhalb der Weimarer Republik starkes volksverhetzerisches Potential beimaß.
Der Film PANZERKREUZER POTEMKIN ist unverhohlen offensichtlich ein Tendenz- und Propagandafilm. Doch muss man die hier visualisierte politische Überzeugung nicht teilen, um sich von der Wirkmächtigkeit dieses Filmes in den Bann ziehen zu lassen. Was PANZERKREUZER POTEMKIN bei seinem Erscheinen so außergewöhnlich machte war die in ihn zelebrierte Kollektivität der Masse. Trotz einzelner hervorschimmernder Figuren, wie dem zum Märtyrer werdenden Matrosen Wakulinschuk, bleibt die Masse der einzige, Bedeutung erlangende Hauptcharakter im Film. Die Eigenständigkeit des Einzelnen tritt zurück, hinter der alles überlagernden Wuchtigkeit des Kollektivs. Die Faszination, die von der (Körper)Masse ausgeht – berauschend und beängstigend zugleich – findet sich auch in anderen Filmen dieser Zeit, wie z.B. in Fritz Langs METROPOLIS. Doch in keinem Film tauchte bis dahin die Individualität des Einzelnen derart in der Masse unter. Ganz verschwindet sie jedoch auch bei Eisenstein nicht. Unweigerlich bleibt auch er dem Menschlichen, dem Individuellen verhaftet.
Das Leid, zugefügt durch eine zweite geschlossene Masse eines vollkommen disziplinierten und unbarmherzigen militärischen Körpers, trifft nicht die Masse als Ganzes, sondern fällt gesondert auf einen Teil ihrer zurück. Es wird zum Einzelschicksal und dadurch im selben Moment erst greifbar, tragisch und überwältigend. Erst diese Einzelschicksale geben dem Leiden ein Gesicht, brechen die unpersönliche Abstraktheit der Masse auf und geben den Geschehnissen erst ihre tiefere Bedeutung und emotionale Tragweite. Kann der Mensch aufhören sich als selbstständiges Individuum zu betrachten, sich selbst vergessen und aufopferungsvoll in der Masse aufgehen? Man möchte zweifeln an den von Eisenstein zu Beginn des Filmes verwendeten Worten Leo Trotzkis, die wenig später ohnehin aufgrund veränderter politischer Verhältnisse in der Sowjetunion durch ein Lenin-Zitat ersetzt worden sind.
“Der Geist der Revolution schwebt über dem russischen Lande. Irgendein gewaltiger, geheimnisvoller Prozess vollzog sich in zahllosen Herzen. Die Individualität, die eben erst sich selbst erkannt hatte, ging in der Masse und die Masse in dem großen Elan auf.“
Solche Gedanken machen sich zwar bereits nach erstmaligem Sehen des Filmes bemerkbar, doch es bleibt während des Schauens nur wenig Raum für mehr als bloßes Erleben, Sammeln von Eindrücken und Mitfühlen der hier so intensiv inszenierten Emotionen. Die von Eisenstein stets beschworene und weiterentwickelte Kunst der Montage kommt hier mit voller Geltung zum tragen. Unterstützt wird die Dynamik der Bilder durch die kongeniale Komposition Edmund Meisels, die erst für die deutsche Kinofassung entstand und für die restaurierte Filmfassung von Helmut Imig adaptiert wurde. PANZERKREUZER POTEMKIN ist ein handwerkliches Meisterwerk und nach wie vor ein cineastisches Erlebnis, sowie ein beeindruckendes, historisches Selbstzeugnis sowjetischen Geschichtsbewusstseins. Dies vermag auch die propagandistische Stoßrichtung nicht trüben, die eine niedergeschlagene Revolte des Jahres 1905 kurzerhand zu einem triumphalen Sieg auf dem Wege der russischen Revolution stilisiert.