Dass Schauspieler Sean Penn („Mystic River“, „Dead Man Walking“) auch die Regiearbeit hervorragend beherrscht, stellte er schon mit dem durch den Song „Highway Patrolman“ von Bruce Springsteen inspirierten Thrillerdrama „Indian Runner“ unter Beweis.
Nun liefert er uns mit der auf wahren Ereignissen beruhenden Romanverfilmung „Into the Wild“ einen wahrhaft schönen Film.
Nach dem Roman von Jon Krakauer, mit dessen Mithilfe auch das Drehbuch entstand, das Penn zusammen mit ihm schrieb, stellt der Regisseur hier die Odyssee des Christopher McCandless zur Schau, die intensiver, schöner und atemberaubender nicht sein könnte.
Christopher McCandless hat schon lange genug von Zuhause, von seinem amerikanischen Leben. Die sich ständig zankenden Eltern, die damit sowohl ihn als auch seine Schwester sehr belasten, als auch andere neumoderne Erscheinungen gehen ihm gehörig gegen den Strich. Sein sehr gutes Schulabschlusszeugnis nimmt der junge Mann so kurz wie möglich entgegen, er sprintet gar auf die Bühne und ist von selbiger genauso schnell wieder verschwunden. Nach einer weiteren Meinungsverschiedenheit mit seinen Eltern beschließt er, sich zu befreien und sein Leben zu leben, wie er es sich vorstellt. Ohne Fremdeinflüsse, ohne Bestimmungen, ohne den Zwang des gesellschaftlichen Lebens. Er vernichtet alle Personalien, macht Feuer mit Geld und zieht los in die Welt – in die freie Naturlaufbahn, durchquert Landstriche, erforsch
t sein eigenes Ich, lebt so, wie er leben möchte. Sein Ziel: Alaska.
Er startet eine Odyssee, auf der er die verschiedensten Menschen trifft, sich mit anderen Leuten unterhält, neue Freunde gewinnt, die schönsten Naturschauplätze auskundschaftet, sich völlig unphysisch verliebt und alten, lebensmüden Menschen neue Lebensfreude schenkt.
Das Besondere an diesem Film ist hauptsächlich, dass er einfach auf eine völlig unaufdringliche Art und Weise sympathisch ist. Es ist ein Film voller Schönheit, mit genügend Klasse, um anspruchsvoll zu sein und zu wenig Tragik, um schwer im Magen zu liegen.
Zwar kenne ich die Buchvorlage von Jon Krakauer nicht, aber ich kann mir gut vorstellen, dass der Film eine hervorragende Umsetzung geworden ist, da Krakauer selbst an dem Projekt beteiligt war.
Als große Überraschung erweist sich Hauptdarsteller Emile Hirsch („Lost Heaven“), der mit seinen jungen 22, bald 23 Jahren hier eine enorm vitale Leistung abliefert. Er springt, balanciert, rennt, klettert und kriecht, was das Zeug hält und nebenbei zeigt er noch einwandfreies, zum Charakter hervorragend passendes Schauspiel, das ihn zu Recht zu Nominierungen für einige Nachwuchspreise gebracht hat.
Der Verlauf der Story mutet etwas episodenhaft an. Zwar gibt es die Hauptfigur McCandless und sein Ziel als roten Faden, aber die vielen Erlebnisse, die ihn auf seiner Reise begleiten, machen schon einen episodischen Eindruck. Diese Erlebnisse allerdings sind ebenfalls ausnehmend schön und warmherzig. Da gibt es zum Beispiel das sympathische Hippiepärchen Rainey und Jan, die sich ebenfalls auf einem Roadtrip befinden und die auch eine Beziehung zu Chris aufbauen. Es macht Spaß, zuzusehen, wie er diesen beiden Menschen einfach nur durch seine Art aus Problemsituationen hilft. Weiterhin wird man als Zuschauer Zeuge, wie er illegal mit einem Kanu einen reißenden Fluss entlangfährt und auf ein weiteres, sehr skurriles Pärchen aus dem Norden trifft. Auch, als Chris ein Mädchen kennen lernt, die sich offensichtlich in ihn verliebt hat, driftet der Film nichts ins billige Teenie-Gefilde ab, sondern lässt die beiden ganz anders harmonieren - nämlich auf einer viel emotionaleren und die menschlichen Werte schätzenden Ebene. Als Chris sich dem Sex mit ihr verweigert, um ihr bei einer musikalischen Einlage behilflich zu sein, werden Gefühle weitaus deutlicher, als in einer plakativen Aktszene. Und gleichzeitig wird hier sein Charakter deutlich, der sich von neumodernen Vorstellungen und Ideen distanziert, um seine eigenen, altmodischen und doch schönen Lebenseinstellungen zu verwirklichen und sie mit anderen zu teilen. Chris’ Bekanntschaft mit dem alten Mann Ron Franz ist ebenfalls einer der vielen Höhepunkte des Films. In diesen Minuten macht sich leise Melancholie breit, und Franz, hervorragend sensibel dargestellt von Hal Holbrook ("The Fog"; er erhielt in diesem Jahr dafür eine Oscar-Nominierung), stellt sich als sehr feiner Charakter heraus, der nicht mit emotionalen und zum Mitfühlen anregenden Momenten spart. Seine Darstellung berührt und gerne sieht man dabei zu, wenn sein schon recht langes, inzwischen aber einsames und durch Tiefschläge gezeichnetes Leben durch Chris’ Anwesenheit neue Freude gewinnt.
Durch seine vielen Motive kann der Film ebenfalls punkten. Sei es der reißende Fluss, der als Parallele zu Chris’ abenteuerlichem Leben gesehen werden kann, die Sonne, die fast ständig scheint und somit Chris’ allgemeine Zufriedenheit mit seiner Lebenswahl ausdrückt, oder die Kameraeinstellung in der Ron Franz-Episode, in welcher ein Berg ein starkes Gefälle aufweist und Chris schon fast oben steht, während Franz sich gerade seinen Weg nach oben bahnt und somit neues altes Terrain beschreitet: der alte Mensch ist auf dem Weg ans neu gesetzte Ziel, Chris als junger, generationsübergreifender Part, scheint fast angekommen zu sein – der Film steckt voller Liebe zum Detail und impliziert eine Unmenge an deutbaren Bildkompositionen.
Auch Chris’ ständiger, ungeregelter Bartwuchs, sicher das simpelste und klischeehafteste Zeichen der Einwilderung, deutet auf die Unterschiedlichkeit des Protagonisten zur „normalen“ Gesellschaft hin. Seine Eltern, ebenfalls glaubwürdig verkörpert von William Hurt („Gorky Park“) und Marcia Gay Harden („Miller’s Crossing"), bilden dazu das exakte Gegenbild: er mit fein rasiertem Schnauzer und sorgfältig gekämmten Haaren, sie mit aufwendiger Frisur und permanenter Kosmetikoptik. Allenfalls an dieser Stelle, wenn sich diese beiden Vertreter der Wohlstandsklasse streiten und mutwillig die Kinder in ihre ausartenden Streitsituationen mit einbeziehen, kann man dem Film einen zu hohen Zeigefinger vorwerfen. Ansonsten bleibt er wirklich angenehm unbeeinflussend, bezieht zwar deutlich Stellung für seinen Hauptcharakter, überrumpelt den Zuschauer aber nicht mit unnötigen Selbstmitleidszenen, die dem Gesamtbild geschadet hätten.
Dass Chris sich einen leer stehenden Bus, den er bedeutungsschwanger „Magic Bus“ nennt, zum vorläufigen neuen Zuhause macht, stellt mehr als deutlich das Bild eines bewegten Lebens auf, das jetzt an neuer Fahrt gewinnen soll und schließt gleichzeitig den Gegensatz der zurückgelassenen Welt ein – die Eltern, die immer noch Zuhause streiten und damit keinen Schritt weiter kommen, erinnern an einen festgefahrenen Bus, der keine Chance mehr hat, je wieder auf die richtige Straße zurückzukommen. Überhaupt beschäftigt sich die Motivverwendung sehr mit bewegten, aber auch stillen Bildern der Straße – „open roads“, offene Straßen, die gern als Bild der Flucht und des Weglaufens benutzt werden, nehmen eine zentrale Stellung im Film ein. Auch sie gestalten sich polyvalent: zum einen ebnen sie den zuvor genannten Fluchtweg, die Straße als Ausweg zum Fliehen vor alten Ängsten und ungeliebten Lebenssituationen, um einen Neubeginn zu wagen. Zum anderen die Härte des auf sich genommenen Trips, verdeutlicht durch blanken, harten Asphalt, der einem nichts schenkt, nicht einmal einen weichen Laufuntergrund.
Bilder der Einsamkeit im festgefahrenen „Magic Bus“ wechseln sich mit belebten, positiv konnotierten Szenen unter Freunden ab (Rainey und Jan) und somit werden auch Nachteile aufgezeigt, die der gewählte Weg des Fliehens mit sich bringt. Die Einsamkeit als Element zum Nachdenken, ein Mittel gegen das Vergessen, kann nicht besonders gut sein für den Flüchtenden. Freunde hingegen sind eine der elementarsten und essentiellsten Dinge des Lebens, die die Seele am Leben halten und den Menschen auch schwierige Situationen meistern lassen (hier gleich in verschiedenen Figuren dargestellt).
Zu guter Letzt muss noch ein Wort über die konsequent melancholische, nachdenklich stimmende, dabei gelegentlich aber doch erheiternde Musik von Pearl Jam - Frontmann Eddie Vedder verloren werden. Man merkt der Musik deutlich an, dass die auf die Ruhe des Films abgestimmt ist, es handelt sich hauptsächlich um spärlich instrumentierte, aber trotzdem ein rundes Bild ergebende Stücke, die sich durch ihre Freiheit und Nachdenklichkeit evozierende Grundstimmung auszeichnen und sich hervorragend in den Film als Gesamtbild einreihen. Sicher hätten beim Musikeinsatz auch viele andere Lieder sehr schön gepasst und wenn man eine Abneigung gegen Eddie Vedder hat, könnte man sich mit vielen Szenen etwas schwer tun, aber wer sich deswegen den Filmspaß bei einem Streifen wie diesem verderben lässt, sitzt sowieso im falschen Kino.
Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass „Into the Wild“ Sean Penns bisher beste Regiearbeit ist, die mit feinem Humor, leisen Szenen und einer enormen Bildkraft, welche sicher nicht zuletzt durch die atemberaubenden Panoramaaufnahmen der Natur bestärkt wird, ausgestattet ist. Hinzu kommen hervorragende Darsteller, die von jung bis alt durch die Bank überzeugen und eine klasse Inszenierung, die viel Wert auf Ruhe legt, sich genug Zeit für die Charakterentwicklung nimmt und somit auch kleineren Rollen ein Profil gibt. Der runde Soundtrack macht das Filmerlebnis komplett und selten wird man einen Kinosaal mit einem derart ausgeglichenen Gemüt verlassen.