von Asokan Nirmalarajah
Roger Ebert, der amerikanische Kritikerpapst, der 1975 als erster Filmrezensent für seine journalistischen Tätigkeiten den renommierten Pulitzer-Preis gewann, war immer schon der Meinung gewesen, dass man einen Film nicht danach beurteilen sollte,
wovon er handelt, sondern
wie er davon handelt. Persönliche Präferenzen brächten es mit sich, dass man an manchen Themen interessierter ist und ihnen auch mehr abgewinnen kann als anderen, doch die Aufgabe des Kritikers bestünde gerade darin, den Lesern einen Eindruck davon zu vermitteln, nicht wie interessant der Gegenstand eines Films, sondern wie gelungen die filmische Umsetzung ist.
Der mit den Fingern sieht (2011), das Langfilmdebüt des preisgekrönten Kurzfilmregisseurs Savaş Ceviz, präsentiert nun insofern ein Problem, als dass der Dokumentarfilm mit dem blinden, türkischstämmigen Maler Eşref Armağan einen faszinierenden Menschen zu porträtieren versucht, dabei aber weit hinter seinen gestalterischen Möglichkeiten bleibt. So behutsam und einfühlsam, neugierig und umsichtig sich Ceviz auch dem Thema nähert, die Antwort auf die Frage, warum gerade dieser Maler einen abendfüllenden Film über sein Leben verdient, bleibt er schuldig.
Dabei sollte sich diese Frage eigentlich erübrigen: Handelt es sich doch bei Eşref Armağan um einen Maler, der seit seiner Geburt blind ist. Er hat in seinem Leben weder Farben, noch Formen, weder Räume, noch Gegenstände, weder Licht, noch Schatten wahrgenommen. Und dennoch ist er in der Lage all das auf seinen Bildern von Objekten und Landschaften darzustellen. Der aufgeweckte Autodidakt erfasst die Welt mit seinem Tast- und Hörsinn und bildet sie mit seinen Fingern ab. Armağan, der ohne eine Ausbildung und in Armut aufgewachsen ist, verkörpert damit ein Phänomen, um den sich Wissenschaftler wie der Psychologe und Blindenspezialist Prof. John Kennedy von der Toronto University und um dessen Gemälde sich Kunstmuseen wie das New Yorker Museum of Modern Art reißen. Der Film zeigt den Alltag des schrulligen Malers und beleuchtet die einzigartigen Maltechniken, die er sich seit seinem 6. Lebensalter angeeignet hat. Dabei erfährt man auch von Armağans schmerzlicher wie abenteuerlicher Lebensgeschichte, die von lebensgefährlichen Krankheiten über die Entführung seiner ebenso blinden Frau zur gemeinsamen Hochzeit bis zum Treffen mit dem ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton reicht.
Bereits 2005 begleitete der frühere Werbefilmer Savaş Ceviz, der unter anderem an der Entwicklung des Bergsteigerdramas
Nordwand (2008) beteiligt war, seinen türkischen Landsmann Eşref Armağan mit der Kamera. Aus seinem Material montierte Ceviz die 30minütige Fernsehdokumentation
Der blinde Maler, die 2006 auf 3sat lief. Mit
Der mit den Fingern sieht versucht der Filmemacher nun als Produzent, Autor, Sprecher, Co-Schnitt und Regisseur in Personalunion seinen Kurzfilm zu einer Kinoproduktion auszubauen – und übernimmt sich dabei leider etwas. Denn die Geschichte von Eşref Armağan mag eine durchaus interessante sein, nur eben nicht über die ermüdende Laufzeit von anderthalb Stunden. Schon die erste halbe Stunde des Films informiert den Zuschauer über alles, was man über den heute 57jährigen Türken mit dem souveränen Auftreten als bebrillter Anzugträger mit Hut wissen sollte: Er ist ein Künstler, der trotz oder gerade aufgrund seiner Blindheit die Welt in all ihren Feinheiten mit seinen ‚sehenden Fingern’ ertasten und durch seinen ausgeprägten inneren virtuellen Kortex mit all den dazugehörigen Dimensionen auf Papier oder Leinwand wiedergeben kann. Das ist keine kleine Sensation.
Die Bilder, die Ceviz dafür findet, sind aber noch einer grauen, biederen Fernsehästhetik verpflichtet, nur selten aufgelockert von inspirierten Kameraeinstellungen, die mit den Aussagen korrespondieren, die die diversen Wissenschaftler über Eşref Armağans Raumwahrnehmungsvermögen machen. Auch die Auseinandersetzung mit der privaten Seite des Malers bleibt oberflächlich und einseitig, zum einen, weil sich der Filmemacher damit begnügt, den Alltag des Künstlers zu fotografieren, und zum anderen die Perspektive Eşref Armağans als voreingenommener Chronist seiner eigenen Geschichte dominiert. Von seiner Behinderung und seinem Talent abgesehen, bleibt Armağan auch eine undurchdringliche Gestalt, die im Film wenig von der Vitalität und dem lausbübischen Charme zeigt, die er etwa in einem
Volvo-Werbespot von 2009 darbot. Der Film will mit dem Schicksal eines benachteiligten Menschen, der über seine Behinderung hinauswächst, ebenso anrühren wie eine lebensbejahende Botschaft an die Zuschauer senden. Filmisch gestaltet er sich jedoch viel zu dröge, um die Lebensweisheiten Eşref Armağans mit der nötigen Vitalität vermitteln zu können.