WER DEN WAL HAT, HAT DIE QUAL
Realität und Fiktion können sich gut leiden. Nicht selten sind es nämlich reale Elemente, die die Fiktion anregen, die Realität etwas auszuschmücken. So soll beispielsweise der Autor
Hermann Melville angeblich durch den verbrieften Untergang des Walfangsegelschiffs
Essex zu seinem weltberühmten Wal-Roman
Moby-Dick inspiriert worden sein. Doch ob nun echter Fakt oder lediglich interessantes Gerücht: Wert ist es diese alte
Origin-Story definitiv, erzählt zu werden.
Das dachte sich wohl auch Regisseur
Ron Howard („
Illuminati“ [2009]), der im Jahre 2015 kurzerhand altbekannte Motive aus Melvilles Kult-Epos destilliert, um sie mit imposanter Mast- und Schotbruch-Action auf hoher See mitsamt all dem anhaftenden menschlichen Schicksal zu verquirlen. So erfährt im Jahre 1850 Melville (Ben Whishaw) vom letzten Überlebenden Thomas Nickerson (Brendan Gleeson), wie eine eigentlich normale Walfangtour im Jahre 1820 durch das Aufeinandertreffen mit einem monströsen Wal in einem Desaster mündete, das die Mannschaft um Kapitän George Pollard (Benjamin Walker) und den Ersten Offizier Owen Chase (Chris Hemsworth) an den Rand des Menschenmöglichen trieb. Eine Legende ist geboren...
... und so beginnt
„IM HERZEN DER SEE“: Auf der Suche nach den Ursprüngen einer Katastro
phe, geboren aus dem Realen. Ruhig und stimmungsvoll zeichnet Regisseur Ron Howard ein in der Filmzeit 1850 angesiedeltes, atmosphärisches Zeitgemälde, das immer wieder in Rückblenden ausweicht, um den Worten Thomas Nickersons, die Melville gespannt zu Papier bringt, alsbald bildgewaltige Taten folgen zu lassen. Diese lassen allerdings erst einmal auf sich warten, denn zunächst steht der menschliche Konflikt zwischen Kapitän Pollard und Owen Chase auf dem Plan. Letzterer hat mit den Befehlen seines Kapitäns so seine Probleme, was nicht nur einmal für ordentlich Zündstoff in der sowieso schon angespannten Situation auf hoher See sorgt. Alleine die Physis von Owen Chase-Darsteller
Chris Hemsworth („
Thor“ [2011]) lässt die anfängliche Mann-gegen-Mann-Rivalität umso intensiver erscheinen.
Eine Rivalität, die angesichts der folgenden traumatischen Ereignisse allerdings sang- und klanglos in den Tiefen der See untergeht, da von einem Moment auf den nächsten nur noch das Überleben zählt. Der riesige Wal, der fortan das Schiff verfolgt und angreift, torpediert das moralisch verwerfliche Vorhaben der Besatzung im wahrsten Sinne des Wortes, so als wäre er die tiergewordene Vergeltung, die nun alle in der Vergangenheit getöteten Wale zu rächen versucht. Diese per Computer eindrucksvoll zum Leben erweckte Tier-Nemesis ist jedoch nicht nur eine bloße zum Töten getriebene Killermaschine, sondern vielmehr eine überaus imposante Erscheinung, die sich mit den ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gegen menschliche Gräueltaten erwehrt. Mann gegen Mann war gestern, nun heißt es: Mensch oder Wal.
Dass der Mensch in diesem Kampf den Kürzeren zieht und bald ohne Schiff, dafür aber mit Hunger und Krankheit in einer Nussschale monatelang auf dem weiten Ozean treibt, welcher mit seinen tierischen Bewohnern eigentlich Leben retten sollte, nun aber nur noch Aussicht auf einen baldigen Tod bietet, ist eine wahrlich bittere Ironie des Schicksals. Und Selbiges zeitigt teils grausame Blüten. Wenn etwa das Ziehen von Holzstäbchen über das Stillen von Hunger (und damit das Töten eines Besatzungsmitglieds) entscheidet, ist man als Zuschauer froh, dass Howard und sein oscarprämierter Kameramann
Anthony Dod Mantle („
Slumdog Millionär“ [2008]) dies nicht wie den Großteil des Films in exquisite Nah- und Weitwinkelaufnahmen verpacken, sondern manch grausame Tat in unser Kopfkino verbannen. Der Intensität und Atmosphäre tut dies beileibe keinen Abbruch, ein paar gezeigte Knochen und die wortreiche Schilderung 30 Jahre später sind des Dramas genug.
Der im Grunde einzige Schwachpunkt des visuell beeindruckenden Films, welcher ihn in der Endabrechnung nur solide und nicht gut oder gar sehr gut dastehen lässt, ist, dass Howard es mitsamt seinen Drehbuchautoren nicht schafft, sein Werk wie aus einem Guss wirken zu lassen. Mehr noch: Er versäumt hier und da, die zum Schneiden dichte Atmosphäre nebst Spannung aufrechtzuerhalten, wenn er die sowieso schon „nur“ in Rückblenden angelegte Erzählung an prominenter Stelle unterbricht, um wieder einen Blick ins „Jetzt“ des Jahres 1850 zu werfen. Freilich, es wäre arg vermessen, zu behaupten, dass der Zuschauer dadurch aus der simpel gestrickten, aber packenden Geschichte komplett herausgerissen würde. Doch ein simpler Voice-Over-Kommentar hätte hier wohl deutlich besser funktioniert. So jedoch wirken die verschiedenen Storyelemente wie das Auslaufen, die Walangriffe und der spätere Überlebenskampf auf hoher See mehr noch wie Maschen eines Netzes, das wohl nur der letzte Überlebende der
Essex-Katastrophe Thomas Nickerson in Gänze auszuwerfen in der Lage gewesen ist. Man lauscht die ganze Zeit seiner Geschichte, und doch sind es Worte, die den Bildern mitunter ihre Kraft stehlen.
Fazit: Optisch eindrucksvoll konzipierte Wal-Action trifft auf reale Katastrophe in diesem Film-Zwitter von Regisseur Ron Howard, der den Mythos
Moby-Dick wieder zurück in unser aller Gedächtnis ruft. Einfach gestrickt, teils etwas zerfahren, aber dabei dennoch enorm spannend.
Cover: © Warner Bros. Pictures Germany