von Asokan Nirmalarajah
Weihnachten steht vor der Tür. Doch der namenlose junge Protagonist von Robert Zemeckis’ bizarrem Weihnachtsfilm
The Polar Express (2004) will am Vorweihnachtsabend nichts davon wissen. Während seine jüngere, in seinen Augen naive Schwester noch an den Weihnachtsmann, den amerikanischen Santa Claus glaubt, ist sein vormals so fester Glauben an die Existenz des dicken, bärtigen Mannes im roten Mantel durch die skrupellose, bittersüße mediale Demaskierung desselben und die logischen Brüche in der Erzählung um seine Person - am kargen Nordpol leben und an einem Abend alle Kinder der Welt beschenken können? - nachhaltig getrübt worden. In der gleichen Position befindet sich wohl auch der Zuschauer, der dank ausführlicher Reportagen über die Entstehung solcher Effektfeuerwerke wie dieses spektakulären, manchmal etwas ungelenken Animationsfilms von der einstmals unerklärlichen Magie des Kinos beraubt worden ist. In diesem Fall konnte der interessierte Zuschauer schon bereits im Vorfeld erfahren, dass
The Polar Express der erste Spielfilm ist, der komplett mit der cleveren „performance capture“-Technik hergestellt wurde. Hierbei werden die Bewegungen der Schauspieler (hier Tom Hanks, der viele der Rollen spielt und mitunter spricht) aufgenommen, digitalisiert und daraufhin am Computer be
arbeitet. In dieser noch leicht gewöhnungsbedürftigen, aber stets faszinierenden Symbiose aus Realfilm und Zeichentrick können somit Schauspieler in ihrer digitalen Gestalt vor grandiosen Kulissen wie dem Nordpol platziert werden, ohne dass man sich in größere Produktionskosten stürzen müsste. Doch je genauer man hinter den Vorhang blickt, desto desillusionierter wird man auch als Zuschauer, und lässt sich nicht mehr so leicht verzaubern. Der Geniestreich von
The Polar Express liegt allerdings gerade darin, sowohl zum Träumen anzuregen, als auch die Mechanismen hinter der (Weihnachts-)Traumfabrik spielerisch offen zu legen.
Der Polarexpress steht vor der Tür. Unser zweifelnde Held und der argwöhnische Zuschauer staunen dann auch nicht schlecht, als ein Ungetüm von einer Lokomotive vor der hauseigenen Tür stehen bleibt. Scheinbar, und das wird im Laufe der Geschichte auch nie im Detail geklärt, ist unser Held einer von wenigen Auserwählten, die diese Nacht zum Nordpol gefahren werden, wo Santa Claus einem von ihnen das erste Weihnachtsgeschenk des Jahres übergeben wird. Organisiert wird die Aktion von dem überpünktlichen, sehr ordnungsbeflissenen Schaffner, der seinen jungen Gästen die Wahl offen lässt, ob sie einsteigen oder nicht, da er einen strengen Zeitplan einzuhalten hat. So finden sich neben unserem unentwegt staunenden Protagonisten ein ebenso namenloses, aufgewecktes schwarzes Mädchen, ein überdrehter Besserwisser, und ein scheuer Knabe aus ärmlichen Verhältnissen unter den aufgeregten Kindern wieder. Doch unser Held darf sich noch in scheinbar außerplanmäßigen, wilderen Abenteuern bewähren, bis die Bahn nach einer reichlich turbulenten Reise endlich den Nordpol erreicht, wo die manischen Elfen in der Stadt ein riesiges Fest begehen. Doch die Achterbahnfahrt hat noch lang nicht aufgehört…
Eine treffendere Beschreibung läßt sich für
The Polar Express nicht finden: man muss kein Verfechter weihnachtlicher Besinnlichkeit und Harmonie sein, um dieses atemberaubend rasante, ereignisreiche und sehr unterhaltsame Action-Abenteuer als pures kinetisches Kinovergnügen zu genießen, das mit derart beeindruckenden, aberwitzigen Kamerafahrten und -perspektiven aufwartet, das man ihre fehlende narrative Dienlichkeit oft und gern ignoriert zugunsten glorreicher Bilder. Doch viele Kritiker stießen sich an dem Versuch, möglichst lebensnahe Figuren zu animieren, die oftmals sonderbar seelenlos durch den Film stolpern, ohne ihre Bewegungen komplett unter Kontrolle zu haben. Dies ist ein anfängliches Problem, womit Regisseur Zemeckis in seinem nächsten Film nach derselben „performance capture“-Methode, das brachiale Schlachtenepos
Beowulf (dt. Titel:
Die Legende von Beowulf, 2007), trotz verbesserter Graphiken immer noch ringt. Hat man sich jedoch an die zuweilen verstörenden Gesichtsausdrücke und den leeren Blick der Figuren gewöhnt, kann man sich an der Inszenierungswut von Zemeckis erfreuen, die in einen derartigen Exzess ausartet, dass man geradezu genötigt wird, diesen verkitschten und sentimentalen Weihnachtsfilm mit der nötigen ironischen Distanz zu betrachten, die auch bei
Beowulf mit seinen unfreiwillig komischen, pathetisch-geschwollenen Reden weiterhilft.
Man mag
The Polar Express leicht als extrem überspitzten Weihnachtskitsch abtun, aber die dunkleren Untertöne des Films, seien sie auch noch so unbeabsichtigt, lassen das weihnachtliche Fest oft erscheinen wie ein religiöses Massenspektakel, zu dem man sich bekennen muss, um fähig zu sein, das zu hören, was alle anderen fanatischen Gläubigen zu hören scheinen: das hypnotische Geklingel der Silberglocken am Schlitten des Santa Claus, der alle in eine bessere, glorreiche Zukunft führt. So muss sich unser verführter Held erst als Gläubiger bekennen, damit er auch den Laut seiner Silberglocke hören kann. Und mit der übergeschnappten Inszenierung des idealisierten Weihnachtsmannes als allwissenden Führer der Elfen bedient sich der Film einer Ästhetik, die bizarre Erinnerungen an Leni Riefenstahls stilbildenden Propagandafilm
Triumph des Willens (1935) wecken.
Somit werden Weihnachtszyniker hier geradezu eingeladen, das christliche Fest als ein größenwahnsinniges Konsumspektakel zu verstehen, während die Weihnachtsenthusiasten noch geblendet sind von den vielen bunten Lichtern und dem kolossalen Weihnachtsbaum. Die Gläubigen können sich an der perfekten Unterhaltungsmaschinerie des Films und von Weihnachten ergötzen, während den Ungläubigen durch die Aufmerksamkeit erheischende Virtuosität der Inszenierung und der Darstellung der Funktionsweisen des Polarexpresses und der sonderbar seelenlosen Nordpolstadt ein Blick hinter die Kulissen dieses Film- und Weihnachts(alp)traums erlaubt wird. Je nachdem, wie tief man blickt oder blicken möchte.