(USA, 1980)
"You're here. You're alive. Don't say you don't feel that."
Als man Robert Redford 1981 fast alle wichtigen Oscars für
Ordinary People (
Eine ganz normale Familie) aushändigte, hatte das US-Kino in den Siebzigern alle großen Themen ausgespuckt, die man sich überhaupt ausdenken konnte oder die Gegenwart auf dem Silbertablett servierte. Kosmische Schlachten, der Kampf Gut gegen Böse. Monströse Mafiaepen. Gefräßige Raubfische. Verschwörungen und Gehirnwäsche. Der Verlust des geliebten Amerika in seiner idealisierten Form.
Die Familie, das war etwas, was höchstens in Coppolas
Godfather-Dramen (1972, 1974) auftauchte. Und wenn man da nicht brav war, schlief man schnell bei den Fischen. Das rein Zwischenmenschliche kam durchaus vor, zum Beispiel in Bob Rafelsons
Five Easy Peaces (
Ein Mann sucht sich selbst, 1970), John G. Avildsons
Save the Tiger (
Rettet den Tiger, 1973), oder Martin Scorseses
Alice Doesn´t Live Here Anymore (
Alice lebt hier nicht mehr (1974). Aber volle Aufmerksamkeit genoss das Spektakuläre und Überlebensgroße.
Das änderte sich gegen Ende des Jahrzehnts. Woody Allen bekam Oscars für seine surreelle Romantikkomödie
Annie Hall (
Der Stadtneurotiker, 1977). Dann kam Robert Bentons
Kramer gegen Kramer (1979), das ebenso erfolgreich war, aber noch im Gewand
eines Gerichtsdramas steckte. Was Redford jedoch bei seinem Regiedebüt machte, war das Unscheinbarste und Leiseste, was man im Mainstreamkino seit langem gesehen hatte. Und eroberte doch die Herzen des Publikums. Oder vielleicht gerade: deswegen.
Der smarte, blonde Frauenliebling zeigt uns eine US-amerikanische Oberschichtfamilie, Vater-Mutter-Sohn, im scheinbaren Normalzustand. Man geht ins Theater, zu gemeinsamen Dinnerabenden mit anderen Sehrgutverdienerfamilien, am Küchentisch parliert man über Kultur, Sport und die Nachbarschaft. Donald Sutherland spielt das Familienoberhaupt Calvin Jarrett, der als Anwalt das Geld nach Hause bringt. Die gesellschaftliche Arbeit und Kontaktpflege überlässt er seiner resoluten Gattin Beth, gegeben von Mary Tyler Moore. Der Sprössling Conrad (Timothy Hutton) schwimmt erfolgreich im Schulverein, singt im Chor und wird wohl bald eine Eliteuniversität besuchen, von der aus ihm die Welt offen steht.
Das ist, wie schreibt man so schön, die Fassade. Doch Fassaden haben die Angewohnheit, etwas zu verbergen, was niemand sehen soll. Schnell merkt man, dass etwas nicht stimmt. Vor allem, weil der gute Conrad von Anfang an so wirkt, als würde er am liebsten alles um sich herum in Schutt und Asche legen. Seine Augen sind oft fiebrig und nervös, manchmal fällt er ganz aus dem Geschehen heraus und stiert ins Leere. Erst nach und nach zeigt uns Redford, was hier vor einiger Zeit passierte, welche Katastrophe die Familie auseinander zu reißen droht. Dass hier ein Sohn und Bruder fehlt, und dass sich Conrad die Schuld dafür gibt. Das ist der Grund für seinen Selbstmordversuch, von dem wir auch erst nach und nach erfahren.
Ordinary People ist ein schöner, anrührender Film im aller positivsten Sinn. Ein Familiendrama, das in seiner Mach- und Tonart noch unzählige Male kopiert werden sollte, als Original aber hoch über seinen Imitationen thront. Kein schnurriger, watteweicher Heartland-Kitsch, obwohl es streckenweise danach aussieht. Schon der Vorspann spricht Bände über Redfords visuelles Programm, das irgendwo zwischen Minimalismus und naturalistischer Romantik liegt. Titel und Schauspielernamen schleichen ohne Musik vor einem schwarzen Hintergrund über die Leinwand. Erst langsam löst sich dieses Schwarz in das verwaschene Blau des Himmels. Die Kamera streift durch ein frühherbstliches Illinois. Majestätische Bäume, die langsam ihre roten und gelben Blätter verlieren. Parkbänke, auf denen niemand sitzt. Straßen ohne Autos. Durch die Wiesen und Straßen weht ein einsames Piano und spielt den berühmten Kanon in D-Dur von Johann Pachelbel. Eine Melodie, an die man sich lange erinnert.
Doch, wie gesagt, Redford macht uns nichts vor. Er zeigt uns eine Welt des betuchten Bildungsbürgertums (Schulchor, Pachelbel, „Calvin“ und „Conrad“ statt „Bobby“ und „Brad“), die er mit keiner Einstellung diffamiert oder der Lächerlichkeit preisgibt. Aber er beweist einen klaren und scharfen Blick für soziale Mechanismen und die Techniken, mit denen die Akteure der Oberschicht versuchen, sich diesen Mechanismen anzupassen (oder zu widersetzen). Solche Mimikry-Spiele nimmt man außerhalb den USA gerne als typisch amerikanisch wahr. Aber wenn man ehrlich ist, ist es doch fast überall das gleiche.
Die Art und Weise, mit der die Familie den Verlust kompensiert, verrät einiges über die große Macht des Gesellschaftlichen. Vor allem Mary Tyler Moore als komplett fremdgesteuerte Netzwerkerin veranschaulicht das überdeutlich. Fast scheint es, als ob ihr das Wohl von Gatten und Sohn weniger am Herzen liegt als das Wahren des schönen Scheins. Mit gespenstischem Betonlächeln und routinierten Ablenkungsmanövern hält sie sehr lange den Laden zusammen. Doch ein Schiff, das untergeht, hällt man nicht auf. Und diese Familie geht unter, das sieht man in fast jeder Einstellung.
Vor allem, wenn Mutter und Sohn aufeinander treffen. Es sind, von allen tollen Szenen, die besten die Redford eingefangen hat. Und die schaurigsten. Zum Beispiel, wenn Beth im unberührten Zimmer des toten Sohnes hockt, ein seltener Moment der stillen Trauer, die einzige Art Trauer, zu der sie fähig ist, und dann Conrad unangemeldet hinzustößt. Zwei Menschen, die nicht miteinander reden können, die den Mund aufmachen und doch kein Wort sagen. Weil der Atem stockt, weil der Schmerz zu groß ist. Oder die Szene, in der beide für ein Weihnachtsphoto posieren sollen. Es ist gruselig, wie die beiden versuchen so etwas wie Gefühle zu simulieren, sich berühren und doch nur abstoßen.
Egal welchen Text man sich zu
Ordinary People heute durchliest, nirgendwo fehlt das Lob für den damals 18-Jährigen Timothy Hutton. Er bekam einen Oscar für die beste Nebenrolle, was wirklich, wirklich untertrieben ist. Er beherrscht den ganzen Film. Er bringt eine Spur Rock´n´Roll hinein. Vor allem seine Dialoge mit dem jovialen Psychiater Dr. Berger (Judd Hirsch) sind scharfzüngig und sorgen dafür, dass Redfords Debüt nicht in hemmungslose Gefühlsduselei abkippt. Huttons Präsenz sprengt fast den Bildschirm. Und das ist schwer, denn Mary Tyler Moore ist fast genauso gut. Nur hat sie das Pech, eine Rolle zu spielen, die subtileres Schauspielern erfordert. Und der das Drehbuch, spätestens zum Schluss, die Arschkarte zumogelt. Mehr als einmal zweifelt man an ihrer Mutterliebe. Und wenn sie zum Schluss mit Calvin streitet ("Mütter hassen doch ihre Söhne nicht!"), da weiß man nicht, ob man ihr das abkaufen kann. Moore muss einen Eisblock spielen. Hutton hingegen kann aus sich herausgehen und genießt die ganze Sympathie des Publikums. Es fiebert mit, bis er zum Schluss in den Armen von Dr. Berger in Tränen ausbricht.
Donald Sutherland ist so eine Art mittlerer Pol zwischen kühler Gattin und heißblütigem Sohn. Ein Mann, der Problemen nicht aus dem Weg geht, sie aber auch nicht mit beiden Händen anpackt. Der versöhnen will, wo andere sich an die Kehle gehen. Und sei es auch nur um eines kurzfristigen Friedens Willen. Doch im Laufe der Handlung fahren seine Schutzschilde immer weiter runter. Betrinkt sich. Lässt in stillen Momenten die Dramen der letzten Jahre an sich vorbei ziehen. Möchte weinen und reden, kann es aber lange nicht. Bis zum Schluss, bei der Aussprache mit Beth. (Übrigens: diese Szene wurde nach offiziellem Drehschluss noch einmal gedreht, da Redford mit dem urspünglichen Ergebnis doch nicht zufrieden war. Mary Tyler Moore hatte aber schon ihr nächstes Engagement. Also nahm er ihren Part und spielte mit Sutherland die Szene noch einmal, mit Redford als Beth. Das klingt ulkig. Aber eigentlich kann man sich noch viel besser vorstellen, mit wie viel professionellem, fast feierlichem Ernst der Schauspieler und Regisseur diese Aufgabe bewältigt hat.)
Über das Ende darf man sich beschweren, wo Vater und Sohn vereint sind, die Mutter jedoch das Haus verlässt. Man darf darüber streiten, ob das nicht unfair ist. Wir wissen auch nicht, wie es weiter geht. Dieser Plot hätte auch viele andere Wendungen nehmen können. Er könnte noch zwei Stunden weiterlaufen. In den letzten zwei hat man einen Blick werfen können auf die ungewöhnlichen Probleme gewöhnlicher Leute. Mehr nicht. Dann schmeißt Redford uns raus. Die Kamera fliegt vom Haus weg, in einen kalten Wintermorgen.
Ordinary People ist ein Film, der einen anfasst. Ob man will oder nicht. Aber man kriegt was dafür zurück. Schönes, unsentimentales Therapiekino. Ein Film über Tod und Trauer, der aber so manches Leben rettete.