von Asokan Nirmalarajah
Zu Beginn von Robert Bressons
Pickpocket (1959) steht die nüchterne Formulierung einer Zielsetzung: es gehe diesem Film nicht darum, eine spannende Geschichte in Form eines konventionellen Thrillers zu erzählen, sondern Verstand und Gemüt eines jungen Kriminellen mit all seinen moralischen Verwicklungen und Widersprüchen einzufangen. Somit sitzt der Zuschauer, der diesem dokumentarisch anmutenden Sozialdrama nach der Sichtung Spannungsarmut vorwirft, von vornherein im falschen Film, da hier keine Kriminalhandlung, sondern eine Charakter- und Milieustudie angefertigt wird. Entsprechend schwer tat sich die zeitgenössische Kritik mit dem kargen, düsteren Film, der weder sympathische Figuren, eine sich zügig bewegende Handlung, noch ein wirklich zufrieden stellendes Ende vorzuweisen hatte. Schnell in die Kunstfilmecke gedrückt, gibt es heute nur wenige, die sich dieses unangenehmen, deprimierenden Filmes annehmen wollen. Einer davon ist Kritiker, Autor und Filmemacher Paul Schrader, der nicht aufhören kann, zu betonen, dass es sich bei dem nunmehr gemeinhin als filmhistorisch wertvoll eingestuften, wenn auch noch immer sperrigen Werk um eines der besten Filme der französischen
Nouvelle Vague handelt und eines seiner beliebtesten Motive enthält: ein widersprüchlicher Mann mit sich selbst und G
ott allein in einem Zimmer, so wie später auch Travis Bickle in Schraders Drehbuch zu Martin Scorseses
Taxi Driver (1976).
Die eigentliche Quelle dieses filmischen Motivs ist jedoch literarischer Natur: Fjodor Dostojewskis 1866 erschienener Roman
Schuld und Sühne, so mußten uns nicht erst Literaturwissenschaftler versichern, ist auch keine Kriminalgeschichte im eigentlichen Sinne, insofern als der Täter, ein mittelloser Student namens Raskolnikow, bei seiner Tat, dem Mord an einer alten Pfandleiherin, vom Leser ebenso beobachtet wird wie auf seiner späteren Odyssee durch die heruntergekommenen Straßen und Häuser von St. Petersburg, während er mit Schuldgefühlen, Verfolgungswahn und seinem verklärten Selbstbild als übermenschlichem Kriminellen hadert, bis sich in der Figur einer Prostituierten seine potentielle Erlösung abzeichnet. Auch wenn dem Protagonisten von polizeilicher Stelle gelegentlich zugesetzt wird, so bezieht dieser Klassiker der Weltliteratur seine ungeheure Intensität und Spannung vielmehr aus den komplex gefassten Figuren und dem detailliert eingefangenen Milieu voller Leid und Verwahrlosung.
Auch wenn
Pickpocket dieses Handlungsgerüst nicht exakt übernimmt, so gibt es doch unübersehbare Parallelen zu Dostojewskis Roman: der mittellose junge Mann Michel (Martin LaSalle) begeht zu Beginn des Films einen Handtaschenraub und kommt trotz eines anschließenden Polizeiverhörs auf den Geschmack. Bald freundet er sich sogar mit einem echten Taschendiebprofi an, der ihm die wichtigsten Tricks des Gewerbes anvertraut. Indes liegt seine alte Mutter im Sterben und wird liebevoll von deren Nachbarin Jeanne (Marika Green) versorgt, für die Michel geheime Gefühle hegt. Und gelegentlich begegnet Michel mit seinem Freund Jacques (Pierre Leymarie) auch einem Polizeikapitän (Jean Pélégri), mit dem er eine persönliche Theorie diskutiert, die sich von Raskolnikows Motiv für dessen Tat wenig unterscheidet: die wahre Größe eines besonderen Menschen liege darin, dass er die Grenzen und Gesetze der Gesellschaft (auf)bricht und sich so damit herausstellt. Womit jede große Persönlichkeit der Weltgeschichte als Verbrecher zu werten sei. Dass andere Menschen zwecks der Rekreation gesellschaftlicher Zustände durch hervorragende Menschen auf der Strecke bleiben sei dabei ein kleineres Übel.
Doch während Dostojewski in seinem fabelhaften Roman die Handlungsarmut nutzte, um sich in die psychologischen Tiefen seiner Figuren zu begeben, zieht es Bresson in seiner wenig kaschierten Adaption vor, die Distanz zu wahren. So benutzt er statt ausgebildeter Mimen, Amateurschauspieler von der Straße, die durch reine Präsenz und ausdruckslose Gesichter für die nötige Kühle sorgen. Aber während diese nüchterne Distanz sehr effektiv ist in den sehr virtuos eingefangenen Szenen, in denen die Brieftaschen ihre Besitzer wechseln, und in den Szenen, in der Michel mit seinem Verfolger über Sinn und Unsinn gesetzlicher Bestimmungen philosophiert, zu der klinischen, prätentiösen Atmosphäre beiträgt, fehlt es andererseits ganz klar an Gründen, warum man sich gerade für diese apathisch in der Gegend herumstarrenden Menschen interessieren soll. Denn trotz der lobenswerten Absicht des Films Realität so schnörkellos wie möglich abzulichten, erfährt man in dieser oberflächlichen Charakterstudie wenig von der zentralen Figur.
Stattdessen, so wird man von bemühten Cineasten belehrt, ist die Substanz hier in der Form zu finden: d.h. die präzise Montage der hypnotischen Bilder fängt das ganze metaphysische Geflecht ein, das der Film nicht wörtlich ausdrücken will oder kann. So soll der Zuschauer den Film fühlen und nicht verstehen. Doch wenn man bei einer mageren Laufzeit von 75 Minuten öfters das Verlangen verspürt, auf die Uhr zu gucken, dann hätte man diese vermeintlich so aufschlussreiche Atmosphäre und den angeblich so unverwechselbaren Stil Bressons auch in 30 knackige Minuten packen können. Denn in der Tat ist die erste halbe Stunde des Films durchaus gelungen. Da aber im weiteren Verlauf des Films wenig Originelles geschieht, wird der Film monoton und ermüdend. Freilich, dies ist eine Minderheitenmeinung, denn viele Kritiker haben Bressons Werk schon längst als Meisterwerk eingeordnet. Mich würde nur interessieren, wie viele von ihnen sich für eine weitere Sichtung von
Taxi Driver entscheiden würden, wenn sie die Wahl hätten zwischen dem sterilen Bresson und dem pulsierenden Scorsese.