2000 erhielt Regisseur Richard Stanley den Auftrag der BBC, ein Segment für ihre Doku-Reihe "Last of the Medicine Men" über haitianischen Voodoo zu drehen. Nach der Ausstrahlung erhielt er die Möglichkeit, aus dem Ursprungsmaterial einen eigenen Film zu schneiden - eine Gelegenheit, die der Filmemacher nutzte, um all das zu zeigen, was die BBC gar nicht haben wollte. Schon mit zwei vorangegangenen Projekten zeigte sich Stanley als mutiger und eigenwilliger Dokumentarfilmer: Für seinen Film VOICE OF THE MOON (1990) begleitete er afghanische Rebellen (die später den Kern der Taliban und der Al-Kaida bilden sollten) durch ein von der sowjetischen Invasion zerrüttetes Land und geriet für die nur musikalisch unterlegten Impressionen des Films in tatsächliche Feuergefechte; in THE SECRET GLORY verfolgte er die Spuren des Gralsforschers Otto Rahn, der im Dritten Reich in Himmlers Ahnenerbe einberufen wurde und 1939 unter mysteriösen Umständen starb. Kein Wunder also, daß auch die 2002 uraufgeführte 48-Minuten-Haiti-Doku THE WHITE DARKNESS keine ganz gewöhnliche Terra-X-Folge darstellt.
Nachdem die Insel Hispaniola von Kolumbus entdeckt wurde, wurde die indianische Urbevölkerung unter spanischer Herrschaft fast vollständig ausgelöscht. Ab dem späten 17. Jahrhundert wurden afrikanische Sklaven auf die Insel gebracht, die auf den Zuckerplantagen arbeiten
mußten, und 1697 trat Spanien dann den westlichen Teil der Insel an Frankreich ab, die die Halbinsel ab sofort Saint-Domingue nannten. 1791 kam es zu einem Aufstand der Sklaven, die ihre weißen Herrscher ermordeten, und 1804 erklärte Saint-Domingue unter dem Namen Haiti seine Unabhängigkeit. Damit einher gingen stetige politische Unruhen und weitere Aufstände, die das Land von einer der wohlhabendsten Inseln in der Karibik zu einem der ärmsten Länder verwandelte: Heutzutage sind 50% der Bevölkerung arbeitslos, 55% sind Analphabeten, und 65% leben unter dem absoluten Existenzminimum.
Die Geschichte der Insel ist insofern interessant, weil hier ein ständiger Konflikt zwischen verschiedenen Kulturen und Machtansprüchen stattfindet; die Selbstbehauptung der schwarzen Bevölkerung schafft bis zum heutigen Tage Reibungspunkte mit Außenstehenden - darunter Amerika, das die Insel 1914 bis 1935 besetzte und 1994 und 2000 hartnäckig versuchte, in die politischen Zustände auf der Insel zu intervenieren. Der harte Zusammenstoß der Kulturen spiegelt sich auch in der haitianischen Religion, dem Voodoo (eigentlich: Vodou oder Vodun), wieder, der Elemente von afrikanischen Religionen mit der Oberfläche des römisch-katholischen Christentums vermischt (und beispielsweise auch Spuren indianischer Religion enthält). Vodou hat dabei größtenteils rein gar nichts mit der schwarzen Magie zu tun, mit der der Glauben gerne in der Popkultur gleichgesetzt wird - das zentrale Element des Vodou ist eine Zeremonie, bei der die Loa, die verschiedenen Geister, angebetet werden, die dann für kurze Zeit Besitz von den Menschen ergreifen können. Es gibt hunderte solcher Loa, die allesamt dem (für den Menschen unerreichbaren) Gott Bondyè unterstehen.
Stanley klammert den geschichtlichen und wissenschaftlichen Hintergrund von Haiti und seiner Religion weitesgehend aus: Er läßt die Rituale und Teilnehmer selbiger für sich selbst sprechen. Bis auf ein paar einleitende Worte bleibt THE WHITE DARKNESS ohne Erzähler; Bilder verschiedener Vodou-Praktiken wechseln ab mit Interviews mit verschiedenen Haitianern, darunter auch ein Houngan und eine Mambo, also ein männlicher und eine weibliche Priesterin. Die Bilder der "besessenen" Teilnehmer sind befremdlich: Ihre Körper zucken ekstatisch, sie rollen über den Boden, schreien unverständliche Worte. "Wenn ein Loa Besitz von dir ergreift, läßt er dich Dinge tun, die keinen Sinn ergeben", erklärt die Mambo Edelle. Stanley selbst erläutert in einem Interview, daß unabhängig von der übersinnlichen Ebene durchaus etwas mit den Menschen geschieht, daß der Besessenheitszustand nicht gestellt ist - "es funktioniert wie eine Droge", sagt er.
Da Stanley sich erzählerisch und als Person völlig ausklammert, kann er auch die beunruhigenderen Aspekte des Vodou zeigen, ohne dabei der herablassenden Haltung anheim zu fallen, mit der sich "zivilisierte" Menschen gerne zu "paganen" Religionen äußern. Ein Tieropfer bei einem Ritual wird von einem Beteiligten so erklärt, daß das Tier als Nahrung dient. Die Mambo erzählt von einer Art Schamanen, dessen Taubenschlag für ihn als "Auge und Ohr" auf der Insel dienen (bei besagtem Schamanen kann man sich offenkundig unliebsamer Menschen entledigen). Und beim "Tisch von Ogou", einer Art Schlammbad im Sumpf, werden Besessene gezeigt, die in den Schlamm eintauchen und sich alleine oder zu zweit in merkwürdigen Verrenkungen darin suhlen.
Weil während des Drehs die US-Armee in Haiti einfiel und sich dort als "Hilfstruppe" stationierte, erhält Stanley auch Gelegenheit, die politischen Zustände auf der Insel zu zeigen. Von einem Feuergefecht ist die Rede, und im Interview erklärt Col. Walker, der Kommandant der Soldaten, daß man darauf trainiert wird, nicht nachzudenken und zu zögern, und daß er hoffe, daß sein Mann zuerst geschossen habe. Eine missionarische Station wird gezeigt, durch die das Christentum auf der Insel verbreitet werden soll - denn, so erklärt uns Walker, nur auf einer christlichen Grundlage kann auch eine Demokratie wachsen. Der Missionar erzählt, wie vor einigen Jahren gesagt wurde, daß bald 95% der schwarzen Bevölkerung Christen sein werden, und daß diese Aussage Satan wohl so erzürnt habe, daß er seitdem für all die Unruhen und Morde auf der Insel verantwortlich sei. Nicht nur vor dem Hintergrund der aus der Sklaverei entwachsenen Geschichte der Insel wird schnell deutlich, warum die Eingriffe von außen so unwillkommen und problematisch sind. Am Ende der Dokumentation gerät Stanleys Kameramann mit einem Soldaten ins Gehege, der behauptet, daß er ihn angegriffen habe, und Stanleys Team wird mit gezückten Waffen gezwungen, die Kameras auszuschalten. Später hat sich herausgestellt, daß Col. Walker wegen der Aussagen, die er in dem Interview mit Stanley gemacht hat, seines Postens enthoben wurde.
Um hinter die Eindrücke zu blicken, tieferschürfende Informationen zu erhalten und das Gezeigte besser in einen Kontext packen zu können, empfiehlt es sich, sowohl das 18-minütige Interview mit Richard Stanley wie auch den Audiokommentar anzuhören, die sich beide auf der DVD befinden (der Film ist als Bonus der US-Luxusedition von Stanleys DUST DEVIL beigelegt). Hier kriegt man ein wenig Ahnung von der Geschichte des Landes und bekommt zusätzliche spannende Informationshappen: zum Beispiel über den US-Marine Faustin Wirkus, der sich während der US-Besatzung Anfang des 20. Jahrhunderts auf Haiti zum König hat krönen lassen (weil es auf Haiti schon einmal einen König Faustin gab), bis er 1929 abkommandiert wurde; später schrieb er dann ein Buch, "The White King of La Gonave", das unter anderem als Inspiration für die haitianischen "Zombies" (willenlose Untergebene) in WHITE ZOMBIE diente.
Schlußendlich ist THE WHITE DARKNESS weniger ein Dokumentarfilm im herkömmlichen Sinne als vielmehr eine Reihe dokumentarischer Impressionen. Weil Stanley aber Zugang zu den Vodou-Priestern erlangte (er erzählt, daß er bei seiner Ankunft als Houngan begrüßt wurde und daß die Priester den Handschlag der Freimaurer erkannten!), erlaubt der Film Einblicke und -drücke, die die übliche Distanz solcher Produktionen größtenteils aufheben können. Wie auch VOICE OF THE MOON hauptsächlich als Erfahrung oder Erlebnis fungiert, deren Hintergründe man in Eigeninitiative erforschen muß, öffnet auch THE WHITE DARKNESS ganz einfach nur eine Tür, durch die man dann selbst schreiten muß - aber letzlich ist das viel interessanter, als musealisierte Infobausteine vorgesetzt zu bekommen.