Neun Jahre ist es her, dass sich Jesse (Ethan Hawke) und Celine (Julie Delpy) am Wiener Westbahnhof voneinander verabschiedet haben. Nun treffen sie sich wieder, allerdings weniger zufällig als beim ersten Mal. Jesse, immer noch ein Romantiker, hat ein Buch über die Nacht in Wien geschrieben und es ist zumindest so erfolgreich geworden, dass er in einem kleinen Buchladen in Paris Interviews geben darf. Celine taucht dort auf und die beiden haben eine knappe Stunde bis Jesses Flieger geht. Wieder wandern sie und reden, diesmal eben durch Paris.
In langen Einstellungen und fast in Echtzeit folgt Richard Linklater den beiden durch die Parks, Cafes und Straßen und beobachtet, wie sie sich betasten und abklopfen, sich necken, sarkastische Witze machen – einfach herausfinden wollen, was aus dem anderen geworden ist und wo er jetzt steht. Die Offenheit, Ironiefreiheit und der Optimismus von früher kehren erst langsam wieder zurück, obwohl man beiden ansieht, wie sehr sie sich über das Wiedersehen freuen und wie neugierig sie aufeinander sind. Erst nach und nach kommen sie zu den brennenden Fragen: Wer war damals, wie ausgemacht, ein halbes Jahr später in Wien? Und was ist jetzt mit uns beiden?
Das Drehbuch hat Linklater zusammen mit Ethan Hawke und Julie Delpy entwicklt und man kommt nicht umhin, Parallelen zu echten Leben der beiden Darsteller zu finden. Ethan Hawke hat selbst zwei Bücher geschrieben und wenn Jesse über seine brach liegende Ehe spricht, merkt man, dass es von innen kommt. Hawkes Ehe mit Uma Thurman ging damals in die Brüche. "Es ist, als würde ich einen Kindergarten führen, mit jemandem, mit dem ich mal was hatte." erklärt er Celine. Es gibt kaum einen traurigeren Vergleich für das Ende einer Liebe. Julie Delpys Privatleben steht nicht so in der Öffentlicheit, doch das Celine nun Umweltaktivistin ist, entspringt einem früheren Berufswunsch Delpys und auch das sieht man ihr an.
Etwa in der Mitte des Films, gerade wenn sich beiden wieder aneinander gewöhnt haben und die Stimmung so angenehm und sympathisch wird wie früher, läuft ihnen die Zeit davon und es geht ans Eingemachte. Jesse Geständnis auf der Seine, er habe das Buch nur geschrieben, um Celine wieder zu finden, kommt so ruhig und mit soviel beiläufigem Ernst, dass keine Zweifel aufkommen. Wir sitzen in diesem Moment genauso sprachlos da wie Celine. Als er erzählt, er habe über die ganzen Jahre immer wieder geglaubt, er würde sie wo sehen, das letzte Mal auf dem Weg zu seiner Hochzeit in New York, erklärt Celine sie habe genau zu dieser Zeit in New York studiert. Und uns rutscht mit Jesse das Herz in die Hose.
Irgendwann sitzen sie im Taxi und wir sehen einen Spiegelmoment aus der Straßenbahn in Wien neun Jahre zuvor. Dort möchte Jesse Celine durchs Haar fahren, während sie nicht hersieht, weil er sie berühen will. Doch kurz davor dreht sie sich zu ihm und er zuckt zurück. Jetzt sieht Jesse aus dem Fenster, erzählt offen wie unglücklich und traurig er ist und wie ausweglos ihm alles scheint. Celine möchte ihm tröstend durchs Haar fahren, doch dann dreht sich Jesse zu ihr und sie zieht die Hand zurück. In diesen zwei Szenen macht sich der Unterschied zwischen den beiden Filmen fest und sie erzählen, welche Entwicklung die beiden und auch ihre Beziehung gemacht haben. Dann fällt auch Celines Maske und wir sehen wieviel von ihrem Selbstbewusstsein und ihrer Stärke, die man vor neun Jahren noch so bewundert hat, mittlerweile zu einem Schutzwall gegen Verletzungen geworden ist.
Als sie sich zuletzt gesehen haben, waren sie jung und standen am Anfang ihres Lebens. Sie hatten Vorstellungen, Träume und Lebensentwürfe und keinen Grund sich zu fürchten, zu zweifeln oder sich vor etwas zu schützen. Jetzt haben sie ein erwachsenes Leben gelebt, haben Schrammen und Narben abbekommen und gelernt, ihre Deckung hoch zu halten. So wie wir alle. Wieviel sich unter dieser Deckung noch an Emotion und Leben verbirgt, zeigen uns Linklater, Hawke und Delpy und machen damit aus der kleinen, schönen Liebesgeschichte "Before Sunrise" in "Before Sunset" eine Geschichte über das Leben, die Liebe und die Menschen. Noch mehr als der Vorgänger besteht und lebt "Before Sunset" von Dialog, Gesten und den Dingen, die zwischen Menschen passieren. Er funktioniert als Fortsetzung deshalb so perfekt, weil er schlüssig, ehrlich und konsequent die Geschichte seiner Figuren weitererzählt. Die Tür für weitere Kapitel, in denen sie uns mehr über Jesse und Celine und damit auch über uns selbst erzählen können, steht weit auf.
Denn es ist bei den meisten von uns wohl so, wie es Jesse am Anfang den französischen Journalisten erzählt: "In meinem Leben gab es nie Pistolen oder Hubschrauber, trotzdem kam es mir immer sehr aufregend vor."