Zwei junge Leute treffen sich im Zug, unterhalten sich, steigen gemeinsam in Wien aus, laufen die ganze Nacht durch die Stadt, reden, verlieben sich und müssen sich am nächsten Morgen wieder trennen.
Richard Linklaters "Before Sunrise" ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass Geschichten nicht kompliziert sein müssen, um unter die Haut zu gehen.
Jesse (Ethan Hawke), ein Amerikaner und Celine, (Julie Delpy) eine Französin treffen sich im Zug von Budapest nach Wien. Jesse ist auf dem Weg nach Wien, um von dort nach Hause zu fliegen, Celine eigentlich auf dem Weg nach Paris, wo sie lebt. Sie beginnen sich zu unterhalten, zuerst über ihre Familie, dann über Kindheitserinnerungen und schließlich über den Tod. Es klickt zwischen den beiden und Celine beschließt mit Jesse in Wien auszusteigen. Sein Flug geht am nächsten Morgen und da er zuwenig Geld für ein Hotel hat, wandern die beiden die ganze Nacht durch Wien und reden. Über Gott und die Welt, Männer und Frauen, Liebe, Freunde und Reinkarnation. Es sind völlig ironiefreie Gespräche und man sieht den beiden an, dass sie endlich einen Hort gefunden haben, wo sie ganz sie selbst sein können und ohne Sicherheitsnetz darüber reden können, was sie beschäftigt und berührt.
In dem Wissen, dass ihnen nichts als diese Nacht bleibt, beschließen sie, erwachsen wie sie sind, das Ganze auch wie Erwachsene zu behandeln und weder Nummern noch Adressen auszutauschen. Natürlich fliegt ihnen ih
re aufgesetzte Rationalität um die Ohren.
Der Film folgt den beiden in langen, ruhigen Einstellungen, hört ihnen zu und fängt viele wunderbare kleine Momente und Wahrheiten zwischen zwei Menschen ein, die sich nach und nach ineinander verlieben. Der Nicht-Blick in der Abhörkabine eines Schallplattenladens. Das Gespräch am "Friedhof der Namenlosen" über Vergänglichkeit und Endlichkeit. Der Kuss am Riesenrad. Das fiktive Telefonat mit dem jeweils besten Freund im Cafe. Die Diskussion um Sex und seine Wichtigkeit. Die ersten Differenzen und Meinungsverschiedenheiten. Der nächste Morgen, als der Zauber wie eine Seifenblase platzt.
Es ist ein Schauspielerfilm und Ethan Hawke und Julie Delpy machen ihre Sache perfekt. Da sind zwei Menschen, wohl Mitte 20, an der Grenze zum Erwachsenwerden und sie blicken voller Hoffnung und Idealismus in die Zukunft und auf das Leben, das sie vor sich
haben. Die Welt hält tausend Überraschungen bereit und sie sind alle gut. Selbst die Liebe ist noch pur und rein.
Hawke spricht als herzensguter, in seiner bemühten Coolness oft tollpatschiger, (das Timing beim Kuss am Riesenrad ist großartig) junger Mann dem Großteil der Männer aus der Seele (selbst wenn sie es nicht zugeben wollen) und Julie Delpy gibt uns als zuckersüße, kluge und selbstbewußte Celine ein Mädl, in das man sich nur sehr schwer nicht verknallt.
Nicht nur bringen die beiden die romantischen Szenen, das Kennenlernen auf den Punkt, sondern auch die etwas unangenehmen Momente. Wie etwa den Streit um die Wahrsagerin und den Dichter und die Unsicherheit, was denn der andere jetzt über einen denken könnte. Oder die Szenen, in denen sie über die Zukunft, den nächsten Tag sprechen und wie sie dieses Thema immer wieder und immer nervöser übergehen, bis sie am nächsten Morgen hilflos, ausgeliefert und völlig überfordert am Bahnsteig stehen.
"Before Sunrise" lügt uns nicht an, weder in Bezug auf Romantik und Liebe noch in Bezug auf seine Figuren. Genauso, wie Romantik und Liebe nie perfekt sind, haben Celine und Jesse ihre Fehler und Unsicherheiten. Wie wir alle. Aber genau das macht sie für den anderen noch attraktiver.
Das ist das Außergewöhnliche und Packende an diesem Film. Er ist echt. Seine Figuren sind echt, seine Geschichte ist echt. Jesse und Celine sind Menschen aus Fleisch und Blut, die man ohne weiteres im Kaffeehaus, auf der Uni oder in der Straßenbahn treffen könnte. Sie führen Gespräche, wie wir sie alle führen. Sie haben unsere Träume, Zweifel, Ängste und Komplexe. Wahrscheinlich folgt und hört man ihnen deshalb so bereitwillig zu.
Linklater präsentiert sich mit diesem Film als scharfsinniger, sensibler Beobachter, präziser Autor und großer Romantiker. Dennoch – "Before Sunrise" könnte nicht weiter weg sein von jeglichem Kitsch.
Irgendwo in der Mitte des Films sitzen Jesse und Celine in einer Seitengasse auf einer Holzpalette und reden über Gott und Celine sagt: "Ich glaube, wenn es so etwas wie Gott gibt, dann ist er nicht in dir oder in mir, sondern in dem, was zwischen den Menschen passiert." Schön zusammengefasst und auf den Punkt gebracht.