Auch oder vielleicht gerade weil es alles andere als eine politisch korrekte Witzvorlage ist, birgt das Tourette-Syndrom eine skurrile Komik. Vincent leidet unter dieser bizarren Krankheit, der Ralf Huettners tragikomisches Road-Movie allerdings nicht mit voyeuristischem Brachialhumor begegnen will sondern mit entwaffnender Leichtigkeit. Sein Vater, gespielt von Heino Ferch, weiß nicht viel mit dem gesellschaftsunfähigen Sohn anzufangen und verfrachtet ihn unmittelbar nach der Beerdigung der Mutter in eine Nervenheilanstal. In dieser abgeschlossenen Welt voller Freaks & Geeks fühlt sich Vincent zwar unwohl, lernt aber die magersüchtige Marie (Karoline Herfurth) kennen und wird von ihr überredet, dem drögen Klinikalltag zu entfliehen. Gemeinsam mit Vincents zwangsneurotischem Zimmergenossen Alexander (Johannes Allmeyer) - der eher unfreiwillig dazustößt - bilden sie ein ungleiches Trio, das sich schnurstracks und ohne große Überlegung auf den Weg nach Italien macht. Dort will es Vincent den Ludolfs gleichtun (deren Ausflug ins Kino tatsächlich das gleiche Thema hatte) und an Stelle seiner Mutter eine Reise tätigen, die diese vor ihrem Tod nicht mehr geschafft hat. Der Ausflug ans Meer entwickelt sich zugleich zur Selbstfindung, zum aufregenden Abenteuer und natürlich auch zum romantischen Geplänkel, untermalt von melancholischen Indie-Klängen.
Zweifelsohne ist VINCENT WILL MEER ein Film, der primär von seinen drei Hauptdarstellern getragen wird,
allen voran Durchstarter Florian David Fitz ("Männerherzen") in der Titelrolle. Nach zahlreichen Nebenrollen und Fernsehauftritten in verschiedenen Serien ist Vincent nicht nur die erste tragende Kinorolle für Fitz sondern gleichzeitig auch dessen erstes Drehbuch, das Routinier Huettner endlich zurück ins Kino bringt. Huettner ist wohl einer der meist übersehenen deutschen Filmemacher überhaupt, inszenierte er doch in den 90er Jahren eine ganze Reihe deutscher Genrefilme vom Krimi (DIE MUSTERKNABEN) bis zum Thriller (BABYLON) und zur Komödie (VOLL NORMAAAL), deren generell sehr hohe Qualitäten bisher kaum gewürdigt wurden. Speziell in letzterem Bereich zeigte sich Huettner facettenreich und fügt seinem früher oft anarchisch-derben Regiestil eine nachdenkliche Note hinzu, lässt seine Wurzeln und Erfahrungen mit Helge Schneider oder auch Tom Gerhardt zeitweilig aber noch durscheinen. Vielleicht zu selten, ist sein neuestes Werk über Wite Strecken doch sehr harmlos und politisch korrekt ausgefallen. Doch halt, zu den Darstellern wollte ich ja eigentlich etwas sagen. Die geben sich durch die Bank weg besonders große Mühe, wie man das eben macht wenn es um Behinderte und geistig Kranke geht. Während sich Fitz in der Hauptrolle (die er sich ja immerhin auf den Leib geschneidert hat) sehr gut zurecht findet und dem Zuschauer die Krankheit - und die Schwierigkeit mit ihr zu leben - in nur wenigen Einstellungen nahe bringt, tut sich sein Kollege Allmeyer als penetranter Neurotiker wesentlich schwerer und braucht gut den halben Film um dem Zuschauer ans Herz zu wachsen. Verblüffenderweise geschieht letzteres erst dann, als man es schon aufgegeben hat und die Anbiederungsversuche des Drehbuchs an diesen "schrägen Vogel" nicht mehr ertragen will. Erst da scheint Allmeyer etwas Luft zu bekommen, was Karoline Herfurth wiederum schneller gelingt - auch wenn es mit ihrer mauligen Figur ebenfalls extrem holprig beginnt.
Die malerischen Alpenlandschaften bieten die ideale Kulisse für drei unangepasste Aussteiger, die ihrem engstirnigen Umfeld entfliehen wollen und sich nach der Weite sehnen. Da reicht es dann für einige verträumt schöne Aufnahmen, die das Gespann etwa auf dem Gipfel eines Berges zeigt, den Blick auf eine freie und selbstbestimmte Zukunft gerichtet. Wenn die drei denn dazu fähig sind. Die Antwort darauf bleibt unklar, was in keinster Weise über die Krankheiten der Figuren gesagt werden kann: Immer wieder fühlt sich der Film verpflichtet Fragen zu stellen und im direkten Anschluss die Antwort zu liefern - damit dem Zuschauer auch ja klar ist, wie sich so ein Tourette-Tic ankündigt oder warum es Marie so schwerfällt, mal was zu essen. Zwar versucht VINCENT WILL MEER einer rührseligen Schilderung aus dem Weg zu gehen und sicher ist vieles vom Gesagten richtig, doch kann all das nicht darüber hinweg täuschen, das viele Dialoge und ganze Handlungsabschnitte der Belehrung untergeordnet. Völlig klar, dass diese Informationen ebenso gut gemeint wie unvollständig sind und ein simplifizierendes Bild der "vorgestellten" Krankheiten zeichnen. Schließlich muss sich auch der rückständig denkende Vater Vincents einer Bekehrung unterziehen, die wieder einmal abenteuerlich einfach gelingt und die Frage aufwirft, ob sich der werte Herr nicht vorher mal Gedanken zum Tourette-Syndrom gemacht hat. Man täte dem Film aber Unrecht, würde man ihn auf diese defizitären Aspekte reduzieren, hält das Drehbuch doch immerhin eine ausreichende psychologische Erklärung bereit für die klischeehafte Rollenverteilung der Figuren.
Es ist wie es ist: Filme dieser Couleur meistern nur selten die schwierige Gratwanderung zwischen ihrer Mission, für ein gewisses Thema zu sensibilisieren und gleichzeitig einer unterhaltenden Dramaturgie gerecht zu werden - selbst ein gestandener Routinier wie Huettner schafft es nicht, gegen die Schwierigkeiten einer solchen Produktion anzukommen.