„Es ist alles so furchtbar, nicht wahr? Der Albtraum der Kindheit. Und es wird noch schlimmer...“ - diese Worte sagt die mysteriöse Dolphin Blue (Lindsay Duncan) noch zu ihrem achtjährigen Nachbarn Seth Dove (Jeremy Cooper) bevor sie in ein Auto steigt und davonfährt.
Dolphin ist ein Vampir, da ist sich Seth sicher. Und da wir „The Reflecting Skin“, das beachtliche Spielfilmdebüt des Briten Philip Ridley, aus der Sicht des Kindes betrachten, glauben wir ihm - oder schließen diese Möglichkeit zumindest nicht kategorisch aus.
Seth lebt zusammen mit seiner psychotischen Mutter Ruth (Sheila Moore) und seinem in sich gekehrten Vater Luke (Duncan Fraser) irgendwo im ländlichen Nirgendwo der USA. Irgendwann in den Fünfzigern.
Da sein älterer Bruder Cameron (Viggo Mortensen) in den Koreakrieg gezogen ist, fällt das herrische Wesen der Mutter nun brutal über den Übriggebliebenen her – den Vater hat sie längst mundtot gemacht, so dass sich dieser nun auf der Veranda in Schundromane über Vampire vertieft.
Dem aufgeweckten Jungen ist die anfangs erwähnte Nachbarin, welche er vornehmlich mit seinen Freunden Eben (Codie Lucas Wilbee) und Kim (Evan Hall) auf grausame Weise ärgert, nicht geheuer, und als ihm sein Vater schließlich die Definition eines Blutsaugers schildert, entsteht für Seth ein unheimlicher Verdacht:
„Die sind nicht sehr freundlich. Die beißen in deinen Hals und trinken dein Blut. Wenn sie das nicht tun, sind sie alt und wenn sie es tun, sind sie jung. Die armen Menschen, deren Blut sie trinken, werden ganz schnell alt und dann sind sie tot.“
Als Seth die einsame Dolphin nun tatsächlich aufgrund eines besonders bösen Streiches besuchen muss, um sich bei ihr zu entschuldigen, liefert sie ihm weitere Gründe für seine Annahme, einen Vampir vor sich zu haben.
Ohne ihren verstorbenen Mann werde sie immer älter, zweihundert Jahre habe sie bereits auf dem Buckel - und sie hasst das Sonnenlicht!
Die Augen des Kindes funkeln und durchdringen die Fassade der Frau, blicken tiefer als ihre Worte.
Kurz darauf findet Seth seinen Freund Eben ermordet im Brunnen auf, woraufhin Luke, der in der Umgebung als Perverser gilt, verdächtigt wird und sich anschließend an der eigenen Tankstelle in Brand steckt.
Cameron kehrt aus dem Krieg zurück, doch die ungetrübte Freude des Jungen darüber bleibt nur von kurzer Dauer:
Sein Bruder verliebt sich ausgerechnet in die blutsaugende Dolphin...
„The Reflecting Skin“, der auch den ausnahmsweise gar nicht so unpassenden, deutschen Titel „Schrei in der Stille“ trägt, ist ein Werk, das eigentlich den Verstand eines Kindes fordert, um es wirklich ergründen zu können.
Die für uns Erwachsene so konkreten Dinge verändern ihre Proportionen und Sinnhaftigkeit, wenn sie erstmal durch die kindliche Fantasiemaschine gelaufen sind – und werden für unseren rationalen Verstand nicht mehr recht greifbar.
Es ist das Porträt des jungen Seth, der unter teils verstörenden Verhältnissen in einer isolierten Umgebung aufwachsen muss. Und es ist gleichzeitig ein Horrorfilm über das Sterben der Unschuld.
Alles, was Seth hört oder sieht, saugt er mit riesigem Interesse, fast wie ein Schwamm, auf.
„Wenn deine Ma über dich weint, tötest du einen Engel“, behauptet Kim, als die Freunde eines Tages zusammenhocken.
Nach der Ermordung Ebens finden Seth und Kim einen eingewickelten Fötus in einer Scheune und die Beiden glauben nun, dass es sich dabei um dessen Umwandlung in einen Engel handele - die Kausalität von Kindern.
Die beunruhigenden Vorfälle – der mysteriöse Mord, der Tod seines Vaters und die Geheimnisse um dessen Vergangenheit sowie die Verführung seines Bruders durch das Geschöpf der Nacht – rütteln an der kleinen Welt, die sich der Junge in seinem Kopf errichtet hat.
Nur Cameron, der versprochen hat, sich nun um ihn zu kümmern, gibt ihm noch den nötigen Halt in der Realität.
Seth kann es nicht ertragen, ihn an seinen großen Erzfeind - Dolphin - zu verlieren, weshalb er wohl alles daran setzen würde, sie aus seinem Blickfeld zu schaffen.
Er weiss, wer Eben – und wenig später Kim – ermordet hat, doch versperrt er sich selbst vor der nüchternen Wahrheit, um weiterhin die Schuld dem Vampir anzulasten.
Nach Camerons Entscheidung für Dolphin spricht er sich nun in der Nacht bei seinem aufgefundenen „Engel“ aus.
Seinem imaginären Freund.
Der Filmtitel „The Reflecting Skin“ bezieht sich primär auf ein Foto, welches Cameron aus dem Krieg mitgebracht hat und ein nach den Explosionen silbern überzogenes Baby zeigt.
Wie erwartet, erweckt auch dieses sofort Seths Interesse – die Reflektion findet also nicht nur darauf abgebildet statt. Alle Menschen und Gegenstände haben für Seth selbst den Effekt einer spiegelnden Oberfläche.
Ridleys Werk, welches sich teilweise übrigens offensichtlich beim grotesken Humor eines David Lynch bedient (man beachte hier zum Beispiel die schräge Darstellung des örtlichen Sheriffs), ist mit Sicherheit kein solches, welches man Zuschauern mit einem eher konventionellen Filmgeschmack empfehlen könnte.
Hier ist ein Einfühlungsvermögen in die eigenwillige und symbolische Bildsprache des Regisseurs nötig, das man wahrlich nicht jedem Kinogänger abverlangen kann.
„The Reflecting Skin“ liefert seine Interpretation eben nicht gerade selbst mit, so dass man angehalten ist, zwischen den oftmals überwältigenden Landschaftsaufnahmen und den stillen Gesten des aufmerksamen Seth selbst mitzulesen, mitzudenken und mitzufühlen.
Wer dazu bereit ist, wird mit einer visuell betörend schönen, aber inhaltlich nicht gerade angenehmen Reise an das Ende einer Kindheit belohnt.
Die letzte Szene zeigt einen ungehörten Todesschrei.