Es klingt viel versprechend wenn Thomas Harris, der Autor des innovativen „Das Schweigen der Lämmer“, „Hannibal“ und „Roter Drache“, wiederum den Roman „Hannibal Rising“ und das Drehbuch für den gleichnamigen Films schreibt. Doch eines muss ich im Vorfeld der Rezension bereits vorwegnehmen: diese Vorgeschichte, welche die frühen Jugendjahre des Psychiaters Dr. Hannibal Lecter ins Blickfeld nimmt, kann in Punkto Originalität kaum noch begeistern.
Das größte Problem dabei ist, dass der Mythos des faszinierenden Menschen verspeisenden Psychopathen völlig entmystifiziert wird. War Lecter in Ridley Scotts satirischem Edelfilm „Hannibal“ (2001), der sich im Gegensatz zu „Das Schweigen der Lämmer“ ganz auf den Gaumenfreund seltsamer kulinarischer Kreationen konzentrierte, in seiner Intelligenz beinahe schon ein allmächtiges Geschöpf, das Nietzsche als „Übermensch“ bezeichnet hätte, wird er hier zum nach Rache dürstenden und filetierenden Teenager, der darüber hinaus seine Morde nicht einmal sorgfältig plant.
Der banale Grund für Hannibals Genese liegt dabei in den Gräueln des zweiten Weltkrieges und dem Terror der Nazis. Als der Junge adeligen Geblüts zusammen mit seiner Familie, darunter seine jüngere und heiß geliebte Schwester Mischa, aufgrund der Kriegswirren des deutschen Russlandfeldzugs in Litauen in ein abgeschiedenes Jagdhaus in den Wäldern flieht, kommt es zum traumatischen Erlebnis, das den Achtjä
hrigen für immer prägen wird: bei einer Explosion verlieren Hannibal und sein Schwesterchen mit einem Schlag Eltern und Familie.
Damit nicht genug stürmt kurz darauf eine Truppe ehemaliger litauischer Kollaborateure in die Hütte, um sich dort vor den Deutschen zu verbergen. Aber es soll ein langer Winter werden, und die verrohten Soldaten, vom Hunger beinahe in den Wahnsinn getrieben, ermorden Mischa, essen ihr Fleisch und flößen es dem halb besinnungslosen Hannibal ein.
Jahre später bricht der gezeichnete junge Mann aus einem Waisenheim aus und macht sich auf den Weg nach Frankreich, um sich dort bei der verwitweten Madame Murasaki Shikibu, der Ehefrau seines verstorbenen Onkels, von den Schrecknissen seiner Kindheit zu erholen.
Doch die Vergangenheit holt ihn ein. Zufälligerweise haben sich nämlich auch seine Peiniger in Frankreich niedergelassen, und so sucht Hannibal einen nach dem anderen heim, um den Blutzoll für den bestialischen Mord Michas einzufordern.
Viele Kinofilme der letzten Jahre beweisen uns ja, dass Rache sich immer gut verkauft, und man dabei ohne komplexe, anspruchsvolle Drehbücher auskommen kann. Die Frage ist nur ob Rache für Hannibal Lecter Motiv genug wäre? Der kluge Psychiater ließ sich nie von seinen Trieben leiten. Eine blinde und heißblütige Vendetta wäre unter seinem Niveau gewesen, und er hätte dies als ein Zeugnis von schlechtem Geschmack empfunden. Vielmehr spielte er mit den Menschen, die er für sich als „Unwertes Leben“ kategorisierte, ein grausames meist tödlich endendes Spiel. Oftmals ließ er sich allerdings wie im Falle Mason Vergers viel sadistischere Mittel als den Tod einfallen. Leicht machte er es seinen Opfern nur selten.
Ist die Rolle des sowohl sehr attraktiven als auch abstoßenden und dämonischen Racheengels mit Gaspard Ulliel, der durch seine markanten Gesichtszüge und eine boshafte Mimik durchaus Talent beweist, noch so gut besetzt, den hölzernen und plumpen Hannibal in Webbers Film vermag auch er nicht zu retten. Anstatt seine Vergangenheitsbewältigung und inneren Kämpfe durch schauspielerische Leistungen darstellen zu dürfen, erlaubt ihm das Script lediglich schreiend aus schleunig geschnittenen und verwackelt gefilmten (woher kommt mir das nur bekannt vor?) Flashbacks und Alpträumen zu erwachen.
Insofern wirkt das dünne Drehbuch mit seinen simplen und schlecht ausgearbeiteten Charakteren - gerade Demme und Scott konnten ja mit ihren vielschichtigen Akteuren und anspruchsvollen Dialogen so sehr begeistern - wie eine billige Rechtfertigung für eine unterhaltsame Aneinanderreihung blutiger Morde, die noch dazu gegen Ende des Films mit zu viel Kabumm und Effektfeuerwerk die Spannung zerstören. Es fehlt an psychologischer Genialität, stattdessen konzentrieren sich Story und Regisseur immer wieder auf das Herz-Schmerz Gesulze zwischen der Klischee-Asiatin Murasaki und dem jungen Adeligen.
Obwohl „Hannibal Rising“ über dem Durchschnitt der momentanen Horrorthrillerwelle liegt und Filmen wie „The Texas Chainsaw Massacre“ (2003), „Hostel“ (2005) und „Saw III“ (2006) leicht die Stirn bietet, kann ich ihm nur mit einem fest zugedrückten Auge eine befriedigende Wertung geben. Eine aufwendige historische Ausstattung, traumhafte Kulissen und Sets sowie tolle Kostüme, Masken und etwas Gore können zumindest durch eine gewisse Ästhetik und Eleganz für die lediglich an der Oberfläche schabende Dramaturgie entschädigen.
Fans von Dr. Lecter sollten sich aber trotzdem keinesfalls von dieser Rezension abschrecken lassen, für sie ist „Hannibal Rising“ ohnehin ein Pflichttermin, sei es auch nur, um danach darüber meckern zu können.
Mit diesem 08/15-Prequel, das nach einem überwältigenden Einstieg durch eine schön-brav-chronologische und blutige Dezimierung seiner Charaktere auf das Niveau eines Teeniehorrorfilms absinkt, dürfte der moderne Archetyp des raffinierten Gourmet-Kannibalen vollkommen ausgeweidet sein. Es bleibt jedoch zu fürchten, dass uns weitere Filme, die Hannibal Lecter ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellen, nicht erspart bleiben werden.