Als ich klein war, gab es bei uns in der Gegend noch ein altes Autokino. Ich erinnere mich, dass mein Onkel mich an diesen faszinierenden Ort mitgenommen hat. Der weite Schotterplatz, die Metallpfosten mit den einhängbaren Lautsprechern, die große Leinwand. Bevor ich noch in einem echten Kino war, war ich in diesem halb verfallenen Autokino. Es heißt, ich hätte dort auch einen Film gesehen, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Es wurde bald abgerissen, um einem Shoppingcenterparkplatz Platz zu machen.
Das Finale von "Bewegliche Ziele" spielt in einem Autokino. Doch nicht nur wegen meines nostalgischen Anfalls ist Peter Bogdanovichs erster Spielfilm in vielerlei Hinsicht bemerkenswert und interessant. Zunächst ist einfach eine gut erzählte, spannende Geschichte, die sich in zwei Handlungsstränge teilt, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben.
Der eine folgt dem alternden Schauspieler Byron Orolk (Boris Karloff), der mit alten, klassischen Horrorfilmen berühmt geworden ist. Mittlerweile geht der Mann aber am Stock und will sich in die Pension zurückziehen. Er hat genug vom Business und hält sich für einen Anachronismus. "Die Welt gehört den Jungen" sagt er und er habe keinen Platz mehr darin. Dass Karloff sich hier, wie von Bogdanovich intendiert, zum guten Teil selbst spielt, ist nicht zu übersehen. Orlok soll einen letzten Auftritt absolvieren und bei einem Screening seines aktuellen Film in einem Autokino persÃ
¶nlich anwesend sein.
Der andere Handlungsstrang entspinnt sich um den jungen all american boy Bobbie Thomspson (Tim O'Kelly), der eines Tages seine Frau, seine Mutter und seinen Bruder erschießt, anschließend seine Waffensammlung einpackt und sich auf einen Gastank in der Nähe eines Highways setzt, um von dort wahllos auf Autofahrer zu schießen. Als er dort entdeckt wird, flieht in eben das Autokino, in dem Orloks Film läuft. Er klettert hinter die Leinwand und setzt dort seine Schießerei fort. Dass für diese Figur Charles Whitman, der zwei Jahre vor "Bewegliche Ziele", in Texas von einem Turm aus ziellos auf Leute schoß, Vorbild war, bräuchte Bogdanovich nicht einmal offen zugeben.
Der alte und der neue, respektive der echte und der fiktive Horror sollen sich hier gegenüber stehen. Die viktorianischen Spukhäuser und Monster aus Orloks Filmen einerseits und der kalkulierte, kaltblütige Massenmord eines Snipers andererseits. Bogdanovich greift hier auf, was Ende der 60er Jahre in der Luft lag und gibt dem Film so gesellschaftliche Relevanz. JFK war schon getötet worden, die Manson Familie und Altamont sollten kurz darauf ebenso folgen, wie die Morde an Robert Kennedy und Martin Luther King. Was dem Film auch Probleme einbrachte, da das Studio aufgrund der aktuellen Ereignisse davor zurückschreckte, einen Film über einen Heckenschützen ins Kino zu bringen.
Orlok spürt, dass sich die Zeiten ändern und er mit seiner Kunst nicht dazu passt. In einer Szene zeigt er seinem Regisseur eine Schlagzeile über sechs Jugendliche, die in einem Supermarkt getötet wurden und meint, dass seine Filme dagegen lächerlich wirken. Obwohl der Film sie nicht diskutiert, wirft er auch die immer wiederkehrende Frage danach auf, ob die Kunst das Leben oder das Leben die Kunst imitiert. Und diese Frage wird ja auch immer gern mit der alten Diskussion, ob Horrorfilme für tatsächliche Gewalttaten verantwortlich gemacht werden können, in Verbindung gebracht.
An einer anderen Stelle erzählt Orlok eine Gruselgeschichte. Es ist eine von diesen Geschichten, die man am Abend auf der Bettkante erzählt und Karloff ist beeindruckend in dieser Szene. Er vereint den ganzen Charme seiner Figur mit ihrer Verlorenheit und Einsamkeit in dieser einen langen Einstellung. Dann folgt der Cut zu Bobby, der völlig wahllos auf Autofahrer schießt und der Film hat seinen Punkt gemacht.
Warum Bobby tut was er tut, bleibt unklar. Wir bekommen Einblicke in sein Leben und seine Famile und können, wenn wir wollen, etwaige Anhaltspunkte für seine Taten finden, aber dann auch wieder nicht. Er ist attraktiv, beliebt und lächelt ein breites Zahnpastalächeln, fühlt sich aber trotzdem irgendwie unwohl und unzufrieden. Er lebt in einer typischen Vorstadt in einem kleinen Haus mit weißem Gartenzaun. Seine Frau ist hübsch und sympathisch. Als er mit ihr über seine eigenartigen Gedanken reden will, hat sie keine Zeit für ihn, weil sie in die Arbeit muss. Als sie allerdings wieder heim kommt, fragt sie ihn, ob er jetzt reden wolle. Bobby verneint. Seine Vater nimmt ihn mit zu Jagen und Dosenschießen, trichtert ihm aber dennoch den verantwortungvollen Umgang mit der Waffe ein. Beim Essen fragen alle höflich nach seiner Arbeit, in der es ihm gut geht, aber jeder redet jedem dazwischen, niemand hört so richtig zu. Eher eine Familie wie viele andere, als ein Brutstätte für Psychopathen.
Antworten und Erklärungen enthält uns der Film vor und warum auch nicht? Wer kann schon wirklich erklären, warum ein Mensch, wie eben Charles Whitman, seine Familie tötet, sie anschließend schön im Bett plaziert, um den entstandenen Schmutz zu beseitigen, nur um dann auf Zivilisten zu schießen? Der durchdachte und geplante Ablauf, die ruhige Vorbereitung und vorallem das gefließentliche Aufräumen nach dem Mord gehören zu den befremdlichsten Momenten im Film.
In Auftrag gegeben wurde "Targets" von Roger Corman, der Bogdanovich folgenden Deal angeboten haben muss: Er, Corman, habe 20 Minuten eines alten Karloff-Films, die Bogdanovich verwende solle. Zusätzlich schulde Boris Karloff ihm zwei Tage Arbeit, in denen Bogdanovich nochmal 20 Minuten mit Karloff drehen könne. Dann bekäme er noch eine Woche für 40 Minuten von irgendetwas anderem. Kostenpunkt 125.000 Dollar, Boganovich solle sich etwas überlegen. Dass dabei etwas herausgekommen ist, ist schon bemerkenswert genug. Dass es darüber hinaus ein Film mit gesellschaftlich relevanten Fragen geworden ist, in dem der alte Boris Karloff einige wunderbare Auftritte bekommt, zeugt von einem Talent, dass Bogdanovich erst später so richtig auspielen wird.
Er läßt auch hier schon Themen und Elemente einfließen, die in vielen seiner späteren Filme wieder auftauchen werden. Seine Affinität zu langen Einstellungen zum Beispiel oder seine prinzipielle Liebe zum Kino, vorallem zum alten, großen Hollywoodkino. Nicht nur spielt er den jungen Regisseur, der mit dem alten Star zusammenarbeitet selbst. Während eines Gesprächs mit Orlok entdeckt er im Fernsehen einen alten Howard Hawks Film und ist gebannt, unfähig die Konversation weiterzuführen. "Howard Hawks directed this" meint er ehrfürchtig. "He sure knew how to tell a story." Auch die Idee, alles in einem Autokino enden zu lassen, passt zu Bogdanovich.
Wenn ich heute die Sequenz im Autokino sehe, in der Bogdanovich das Kino als Erlebnis zelebriert, indem er uns lange zeigt wie der Ticketschalter aufsperrt, die Scheinwerfer gerichtet werden, langsam die Zuschauer kommen und sich der Popcornstand bevölkert, der Filmvorführer die Projektoren putzt und die Filmrolle einlegt - dann geht es mir ein bisschen wie Orlok. Heute gibt es Multiplexe, Blu-Ray Homecinemas und Kino ist kein Erlebnis mehr sondern höchstens ein Event.