von Asokan Nirmalarajah
Up (2009; dt. Titel:
Oben) ist der zehnte Film von Pixar, dem kommerziell erfolgreichsten Animationsstudio unserer Zeit. Vom ersten computergenerierten Zeichentrickfilm in Spielfilmlänge
Toy Story (1995) bis zum letzten Achtungserfolg
WALL-E (2008) konnten Pixar immer aufs Neue Kritik und Publikum mit Filmen begeistern, die auf einer Qualitätsstufe operieren, die weder von den Disney-Produktionen der letzten zehn Jahre, noch von anderen CGI-animierten Filmen anderer Studios bislang erreicht wurde. Selbst schwächere, weniger einfallsreiche und auffallend konstruierte Filme wie
A Bug’s Life (1998) und
Cars (2006) fanden noch beachtlich großen Beifall. Die Erfolgsformel der Pixar-Filme lässt sich dabei relativ einfach auf einen bestimmten, rekurrierenden Plot herunterbrechen: Im Zentrum des Films steht stets ein Protagonist (und gelegentlich auch ein Co-Protagonist), der im Laufe der Geschichte die Grenzen seiner vertrauten Welt und damit die Grenzen seiner Identität bewusst oder unfreiwillig überschreitet, eine bedeutende Wandlung durchläuft und zum Schluss um einige Einsichten reicher glücklich in seine Welt zurückkehrt. Oder in anderen Worten: Pixar-Filme funktionieren so wunderbar, weil sie sich strikt an die Dramaturgie des klassischen Hollywoodfilms der 30er
bis 60er Jahre halten und diese altbewährte Narration mit genug tricktechnisch atemberaubenden Bildern und Tönen umsetzen, dass das Publikum ins Schwärmen kommt. So auch nicht anders bei
Up, dem vielleicht sentimentalsten und witzigsten Film von Pixar.
Der eigenwillige Protagonist der Geschichte ist ein alter, schlecht gelaunter Rentner namens Carl Fredricksen (gesprochen von Ed Asner), den wir zunächst als kleinen, schüchternen Jungen kennen lernen, der fasziniert ist von seinem großen Vorbild Charles Muntz (gesprochen von Christopher Plummer), einem in Ungnade gefallenen und daraufhin verschollen gegangenen Urwaldforscher. Carl teilt seine Liebe zum Abenteuer bald mit Ellie, einem aufgedrehten Mädchen, in die er sich verliebt und die er Jahre später auch heiratet. Sie altern gemeinsam, leider ohne Kindersegen, und halten an Ellies Traum fest, mit ihrem Haus eines Tages dorthin zu ziehen, wo Muntz einst gewesen sein soll: zu den Paradiesfällen in Südamerika. Doch bevor Carl seiner Frau diesen Traum erfüllen kann, stirbt Ellie an Altersschwäche. Als Carl von einer Baufirma mit dem Abriss seines kleinen Heims gedroht wird, beschließt er in seiner Verzweiflung, das Haus an Tausende von Heliumballons zu hängen und zu den Paradiesfällen zu fliegen, um Ellie ihren letzten Wunsch doch noch zu erfüllen. Doch der Plan hat einen Haken: der Pfadfinderjunge Russell befand sich beim Abflug auf der Terrasse und wird mit in ein turbulentes Abenteuer gerissen…
Je weniger man natürlich von den einzelnen Eskapaden dieser ebenso schrulligen wie auf Anhieb sympathischen Figuren im Vorfeld weiß, desto besser funktionieren auch die originellen Abenteuersequenzen des Films. Wie bei früheren Pixar-Filmen besteht natürlich nie ein Zweifel darüber, dass sich der Film zum unvermeidlichen Happy-End hin entwickeln wird, aber der Weg dorthin ist doch äußerst unterhaltsam, witzig, temporeich und sogar anrührend. Es stimmt zwar, dass sich die Regisseure bei Pixar in der Regel mehr trauen als andere amerikanische Animationsfilmer und dem (nicht nur) kindlichen Publikum mitunter subtile Todesszenen (das ‚Familienmassaker’, mit dem
Finding Nemo, 2003, beginnt), körperlich behinderte Protagonisten (Nemo), moralische Ambiguität (ein Bösewicht, der nur einer geworden ist, weil er als Kind vom Helden enttäuscht wurde in
The Incredibles, 2004) zutrauen, aber sie sind nicht immer konsequent in ihrem Wagemut. So ist der wohl spannendste Moment in dem gemeinhin als bislang besten Pixar-Film rezipierten
WALL-E (2008) jener, in dem kurz vor Schluss nicht sicher ist, ob unser Held wirklich den Heldentod gestorben ist und seine Identität – im wahrsten Sinne des Wortes – ausgelöscht hat. Doch ein Animationsfilm, der Millionen von Zuschauern glücklich aus dem Kino entlassen soll, kann nur mit einem Happy-End enden. Da hört jeder Mut zu narrativen Experimenten wohl auf.
Auch
Up ist ein sehr konventioneller und sicherlich berechenbarer Film, der von vorn bis hinten durchkonstruiert ist. Nur im Gegensatz zu schwächeren Pixar-Filmen fällt die Formelhaftigkeit hier weit weniger auf, weil wie bei den besten Exemplaren des klassischen Hollywoodfilms jeder Moment, jede Szene, jede Sequenz perfekt sitzt, ihre narrative Funktion also vollends erfüllt. Und um der Gefahr vorzubeugen, dass der Film allzu mechanisch und leblos wird wie
Cars gibt es Dutzende kleiner Momente und Gesten von kurzer Dauer, aber großer Wirkung und Bedeutung, bezaubernde, phantasievolle Bilder und viele aberwitzige Dialoge. Geradezu sensationell ist jedoch die Figurenzeichnung: Carl Fredricksen mit seinem Quadratschädel zeigt mehr Gefühl und Komik in seinem ‚Spiel’ als die meisten echten Darsteller des heutigen Hollywoodkinos. Vor fünfzig, sechzig Jahren hätte der große Spencer Tracy, dessen Aussehen als Vorlage für Carl gedient haben soll, diese Rolle gespielt und den Film hätte sicherlich Frank Capra gedreht.
Up hat einen geradezu zeitlosen Charakter und erlaubt es sich, seine oft sehr bewegende Geschichte mit der Ruhe und mit dem Taktgefühl zu erzählen, die sie auch verdient hat. Die Anfangssequenz, in der wir dem Eheleben von Carl und Ellie beiwohnen ist schon für sich ein kleines Meisterstück filmischer Erzählkunst mit wunderbar sentimentalen Bildern und der feinfühligen Musik von Michael Giacchino. Kurz vor dem atemberaubend rasanten Finale gestattet der Film seinem Helden sogar einen Moment der inneren Einkehr, das zu Tränen zu rühren vermag. Denn
Up ist trotz packender Actionsequenzen und schriller Komik letztlich ein oft trauriger, regelrecht ergreifender Film über die Gefühle des Verlusts und der Trauer, die ein alter Mann nach dem Tod seiner Frau empfindet.