KOPFKINO DELUXE
Die erfolgsverwöhnten
Pixar Animation Studios, die mittlerweile vom Mäusekonzern
Disney aufgekauft wurden, schufen in der Vergangenheit etliche Meisterwerke, die Jung und Alt begeisterten. Ob nun ein kulinarischer Genuss wie „
Ratatouille“ [2007] oder ein sentimental-herzliches Abenteuer namens „
Oben“ [2009] – Jahr auf Jahr folgte immer verlässlich ein neuer Streifen, und jedes Mal war die Spannung schier unermesslich, was die Pixelmagier wohl aus dem digitalen Hut hervorzaubern würden. Umso größer dann die Enttäuschung, dass 2014 als das Jahr in die Kinogeschichte eingehen sollte, in dem aufgrund von unerwarteten Terminverschiebungen kein einziger
Pixar-Film das Licht der Kinoleinwand erblickte. Nun, 2015, lohnt sich diese einjährige Durststrecke aber womöglich doppelt. Denn im Abstand von gerade einmal knapp zwei Monaten kommen ab 01. Oktober gleich zwei
Pixar-Filme in die Kinos: der letztjährig verschobene
What If-Beitrag „
Arlo & Spot“ (26. November 2015) und
„ALLES STEHT KOPF“ (
„Inside Out“), der bereits bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes für Furore gesorgt hat. Wenn das kein Grund zum Jubeln ist...?!
In
„ALLES STEHT KOPF“ werden Gefühle wie dieses nun auf einfallsreiche Weise greifbar gemacht. Ein Zoom, und plötzlich finden wir uns im Verstand der handelnden Personen wieder. Dieser sieht jedes Mal aus wie eine Schaltzentrale, die von den Emotionen
Wut,
Angst,
Freude,
Ekel und
Kummer gleichberechtigt bedient wird. Durch geschicktes Zusammenspiel dieser Fünf werden so zum Beispiel prägende Erlebnisse in der Außenwelt zu Erinnerungen, die im Langzeitgedächtnis archiviert werden. So auch bei der elfjährigen Riley (Stimme im Original: Kaitlyn Dias), deren Leben eine unerwartete Wendung nimmt, als ihr Vater einen neuen Job annimmt und die gesamte Familie umziehen muss. Ebenso überrascht von dieser völlig neuen Lebenssituation, haben die in Rileys Kopf lebenden Gefühle
Freude (Amy Poehler),
Angst (Bill Hader),
Wut (Lewis Black),
Ekel (Mindy Kaling) und
Kummer (Phyllis Smith) alle Hände voll zu tun, das durcheinandergerüttelte Gefühlszentrum der 11-jährigen im Gleichgewicht zu halten. Schon bald gerät
Freude immer mehr ins Hintertreffen. Zu allem Überfluss werden durch eine Verkettung unglücklicher Umstände
Freude und
Kummer auch noch aus dem Kontrollzentrum befördert, was die bereits gebeutelte Riley nunmehr komplett aus der Bahn wirft. Werden die Gefühle Rileys Leben wieder in den Griff bekommen, oder muss sie fortan ein von
Angst,
Wut und
Ekel geprägtes Dasein fristen?
So abgehoben die Idee auch klingt, so geerdet ist doch diese
Pixar-Produktion, die im Grunde von ganz alltäglichen Problemen erzählt. Zwar standen in der Vergangenheit schon immer die Gefühlswelten von Charakteren im Vordergrund, doch wie die Digital-Künstler dieses Thema nun angehen, schlägt in Sachen Kreativität, Einfallsreichtum und Herz so ziemlich alles, was man an Vergleichbarem bisher gesehen hat.
Pixar kreiert unaufdringliche Traumwelten und imaginäre Freunde, zeichnet Emotionen als knuddelig-charmante Figürchen und benötigt dazu kein aufwendiges Effekte-Feuerwerk, sondern schlicht klar geformte, einfache Bilder, die sich angenehm zurückhaltend dem Fluss der Geschichte unterordnen. Diese beschreibt in knapp 90 Minuten ein noch junges Leben auf dem Weg zum Erwachsenwerden, und weil das Dasein eines Menschen auf dem Weg zum letztendlichen (Lebens-)Ziel oft mehrere Umwege meistern muss, präsentiert uns die Welt von
„ALLES STEHT KOPF“ elegant die Filmwerdung dieses lebenslangen Hindernislaufs.
Welche Hürden
Freude und
Kummer überwinden müssen, und ob sie es überhaupt zurück in das Kontrollzentrum schaffen, wird hier natürlich nicht verraten. In jedem Fall wird der Zuschauer Zeuge einer wendungsreichen Odyssee
inside the mind, die mal belustigt, mal zu Tränen rührt und ansonsten einfach nur zum Staunen einlädt. Sei es der Besuch eines an ein Filmstudio gemahnenden (Alb-)Traumstudios, das wortwörtliche Entfesseln verborgen geglaubter Ur-Ängste, der düstere
Friedhof der Erinnerungen oder die Kraft der Fantasie in Form eines imaginären Freundes namens
Bing Bong, der für den Fortgang der Geschichte noch eine gewichtige Rolle spielen soll –
Pixar war selten kreativer. Und wenn sich von einer Sekunde auf die nächste plötzlich die Sichtweise auf das verkopfte Geschehen wortwörtlich in abstrakte Sphären rückt, schlägt die nicht zu bändigende Kreativität der Macher regelrecht Purzelbäume. In der obligatorisch angebotenen 3D-Fassung des Films, die ansonsten jedoch nur sehr wenig Mehrwert entfaltet, werden hier die verschiedenen Nuancen der Darstellung in besonders plastischer Weise erkennbar.
Dass sich inmitten all der wunderbaren und abgefahrenen Ideen, der Gedankenwelten, -Themenparks und sie bevölkernden illustren Gestalten dann sogar noch eine zutiefst menschliche Seite zeigt, die einen Anker in Richtung Realität wirft und zudem mit einer schönen Moral aufwartet, ist da nur noch als Sahnehäubchen auf einer Filmkirsche zu bezeichnen, wie sie der Animationsfilm in der Regel nur alle paar Jahre hervorbringt.
„ALLES STEHT KOPF“ kommt als ein teils turbulenter Spaß, im Grunde seines Herzens aber doch äußerst ernsthafter und ehrlicher Film daher, der nicht übertreibt, wenn er aufzeigt, dass ein Leben ohne
Kummer zwar möglich, aber sinnlos ist. Und ein Leben, das nur von
Freude dominiert ist, fühlt sich einfach nicht komplett an. Es fehlen schlicht 4/5 zum erfüllten Ganzen. Jedes Gefühl, jede noch so kleine Emotion hat nämlich eine Aufgabe, und schlussendlich entscheidet wie beim Radio der ausgewogene Mix über ein erfolgreiches Endprodukt. Besser lässt sich der menschliche Verstand wahrscheinlich nicht für Groß und Klein beschreiben, die sich allesamt irgendwo in diesem tricktechnisch wie inhaltlich perfekten Werk, diesem herrlichen
E-Motion-Picture, wiederfinden werden. Es bleibt ein Film, auf den man sich definitiv einlassen sollte und in dem man seinen Gefühlen endlich wieder gänzlich ungeniert freien Lauf lassen darf. Denn selten war es angebrachter.
Fazit: Nach den lediglich soliden bis durchwachsenen Vorgängerfilmen hat
Pixar nunmehr wieder zu alter Stärke zurückgefunden und präsentiert mit
„ALLES STEHT KOPF“ den wohl kreativ-originellsten Animationsfilm der vergangenen Zeit. Wenn das Doppel gelingen und am Ende des Jahres auch noch „
Arlo & Spot“ überzeugen sollte, darf sich
Pixar ruhigen Gewissens wieder als Non plus Ultra im Animationsbereich bezeichnen.
„ALLES STEHT KOPF“ ist jedenfalls schon einmal ganz großes Kino, das einfach begeistert.
Freu!
Leider hält der Vorfilm „LAVA“ von James Ford Murphy über einen erlöschenden Vulkan, der sich nichts sehnlicher als eine Partnerin wünscht, nicht dem Vergleich mit dem hervorragenden Hauptfilm stand. Trotz tricktechnischer Perfektion, die teils fotorealitische Bilder hervorbringt, und einer netten Wortspielerei („I need someone to lava“) vermag der Film dem Zuschauer nicht viel mehr als nur ein leichtes Lächeln zu entlocken. Dies mag zum einen an dem andauernd wiederholten Lied, zum anderen an der mehr als aufgesetzt wirkenden Schlusswendung liegen, die das altbekannte Thema „Liebe versetzt Berge“ etwas zu wörtlich nimmt. So ist der siebenminütige Kurzfilm zwar wie erwartet schön anzusehen, bleibt inhaltlich aber eher mau. Disneys oscarprämierter Kurzfilm „Im Flug erobert“ [2012] hat bei einem ähnlich gelagerten Thema weitaus mehr überzeugt. (3 von 6 Sternen)
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