Laut eigener Aussage war
Der Vierte Mann Verhoevens erster Film, der in seiner Heimat Holland wirklich gute Kritiken bekam. Dies spricht nicht gerade für die dortigen RezensentInnen, zählen zu seinen früheren Werken doch der spannende
Der Soldat von Oranien oder das skandalöse Meisterwerk
Türkische Früchte. Aber nun, auch blinde Hühner finden einmal ein Korn – und Lob hat Verhoeven für
Der Vierte Mann auf jeden Fall verdient.
Eine Spinne huscht durch ihr Netz, verharrt einige Momente auf einem Kruzifix und tötet schließlich drei Fliegen: gekonnt baut der Beginn die surreale Stimmung auf, die uns auch durch den restlichen Film begleiten wird. Dann erwacht der exzentrische Schriftsteller Gerard Reve (Jeroen Krabbé) und wankt halbnackt die Treppen hinab, um sich erstmal ein Glas Wein einzuschenken. Sein Liebhaber beschimpft ihn als „Säufer“ und spätestens jetzt beginnen Einbildung und Wirklichkeit zu verschwimmen: Wir sehen, wie Gerard seinen Gespielen mit einem BH erwürgt. In der nächsten Szene ist der Knabe allerdings wieder wohlauf, es war nur ein Wunschtraum des Alkoholikers. Ein Vorgeschmack auf eine andere Realität, verborgen hinter unserer „Realität“: im Laufe des Films werden wir sie noch weiter erkunden.
Gerard macht sich auf dem Weg zum Bahnhof, wo er im Kiosk zufällig einen jungen Mann trifft, der ob seiner Schönheit sofort die Aufmerksamkeit des Schriftstellers erregt – scheinbar
nur ein kleiner Zwischenfall, doch einer von der Sorte mit Folgen. Gerard verliert den Adonis aus den Augen und macht sich auf den Weg nach Vlissingen, wo er eine Lesung halten soll. Im Zug nach dort löst ein Foto eine Vision aus: Gerard irrt durch Hotel; kommt an eine Tür, welche die Nr. 4 trägt: er will klopfen, doch das kleine Schild fällt hinab und ein Auge quillt aus der Öffnung, Blut rinnt an der Tür hinab... oder Tomatensaft? Immerhin läuft solcher gerade über das Bild im Abteil – eine undichte Flasche im Gepäck einer Mitreisenden.
In Vlissingen hält Gerard dann nicht nur seine Lesung, sondern trifft auch auf die junge, hübsche Femme Fatale Christine, die in gewisser Form schon Sharon Stones Catherine aus
Basic Instinct antizipiert. Sie bietet ihm an, dass er doch bei ihr übernachten könne, da ihm das für ihn vorgesehene Hotel nicht gefällt, handelt es sich doch um jenes aus dem Bild im Zug. „Ein Hotel, in dem man sich aufhängt“, so der Protagonist.
Christine wohnt etwas außerhalb der Stadt, direkt am Meer, und besitzt einen Schönheitssalon, der den Namen Sphinx trägt. Allerdings gibt es Probleme mit der Beleuchtung, daher ist über der Tür „Spin“ zu lesen, das holländische Wort für Spinne. Damit wird Christine mit der Spinne vom Anfang des Films in Verbindung gesetzt – ein cleverer Schachzug um auch die ZuseherInnen skeptisch zu machen.
Es kommt, wie es kommen muss: Die Beiden landen im Bett. Diese Szene gewinnt dadurch, dass Gerard sich dabei denkbar unbeholfen anstellt; das hebt sie von Vergleichbarem ab. Immerhin handelt es sich ja auch um einen Film von Paul Verhoeven. Gerard schläft ein, hat eine seltsame Vision. Aus dieser erwacht er gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Christine ansetzt ihn mit einer Schere zu entmannen. Er schreckt hoch... es war nur ein weiterer Traum. Inzwischen ist diese Struktur bekannt, damals hatte sich Verhoeven von
An American Werewolf in London inspirieren lassen.
Am nächsten Morgen ist Gerard kaum erwacht, da bringt Christine ihm schon das Frühstück, zuvorkommend wie sie ist. Und als wäre das nicht genug, schenkt sie ihm auch ein Hemd ihres Mannes... darauf angesprochen beginnt sie zu weinen, ist ihr Gatte doch verstorben. Gerard entschuldigt sich, mit einiger Mühe gelingt es ihm die junge Witwe zu trösten.
Nach dem Frühstück findet Gerard zufällig (oder ließ Christine sie mit Absicht dort liegen?) Briefe von einem anderen Liebhaber der Femme Fatale, sogar ein Foto ist dabei. Der Schriftsteller kann seinen Augen kaum glauben: es handelt sich um seinen Adonis vom Bahnhof! „Ich muss dich haben, und wenn es mein Tod ist...“, haucht er dem Bild zu. Auffällig leicht gelingt es ihm Christine zu einem Treffen mit Hermann, so der Name des schönen Mannes, zu überreden... damit wären die Dramatis Personae versammelt, einer spannenden Dreiecksbeziehung steht nun wohl nichts mehr im Wege... oder? Die allgegenwärtige Todessymbolik verheißt nichts Gutes, und vielleicht steckt in Gerards Ausspruch mehr Wahrheit, als ihm wirklich bewusst ist.
Man wird sich inzwischen vielleicht schon wundern: „Nur“ 4 Sterne, aber bisher kein einzig schlechtes Wort über den Film. Das liegt daran, dass der Film das hohe Niveau der ersten Hälfte vor allem gegen Ende nicht halten kann: am Höhepunkt des Filmes reiht sich Zufall an Zufall, das raubt ihm einiges von seiner Kraft. Selbst wenn man sich vollkommen auf das Phantastische einlässt, wie Gerard es während der Lesung fordert, und sich in die Wirklichkeit hinter unserer Realität wagt: ganz stimmig ist das Ende nie; eine der möglichen Interpretationen scheint immer wesentlich plausibler als die andere. Dass es auch besser geht, bewies Verhoeven einige Jahre später mit
Total Recall.
Außerdem wirkt die Symbolik etwas übertrieben: Kruzifix, Galgen, Gruft, irgendwann ist uns klar, dass es um den Tod geht, es muss nicht ein weiteres Mal angedeutet werden. Und auch Jesus ist überall, nicht nur auf Plakaten, die eben diese Botschaft proklamieren. Verhoeven war sich dieser Übertreibung durchaus bewusst, er tat es für die Kritiker und spricht selbst von „Pseudo-meaning“. In meinen Augen hätte er bei der etwas spärlicher eingesetzten, aber umso wirkungsvolleren Symbolik seiner früheren Filme bleiben sollen.
Umso enttäuschender wirken diese vergebenen Chancen, wenn man den Rest des Films betrachtet: Die Schauspieler können beispielsweise mehr als nur überzeugen. Christine wirkt verführerisch und gefährlich, zugleich aber auch kalt und berechnend. Hermann, trotz guter Leistung der schwächste aus der Riege, verkörpert den etwas naiven, von Sex-Geschichten faszinierten Klempner glaubwürdig. Jeroen Krabbé ist schließlich schlichtweg beeindruckend, und die Rolle des exzentrischen Alkoholikers war in mehr als einer Hinsicht eine Herausforderung: es war viel Überzeugungsarbeit von Verhoeven notwendig, bis Krabbé sich bereit erklärte vor laufender Kamera zu onanieren.
Der Plot ist, wie ich hoffentlich vermitteln konnte, spannend, vom konstruierten Ende einmal abgesehen. Die Visionen von Gerard ziehen auch die ZuseherInnen in ihren Bann, von Anfang an beäugt man Christine ein wenig skeptisch. Geschickt eingestreute humorvolle Episoden nehmen die Distanz zu Gerard – definitiv keiner dieser Charaktere, die einem vollkommen egal sind. Schließlich ist auch das homosexuelle Element in der Dreiecksbeziehung eine erfreulich frische Idee – selbst heute noch, über 25 Jahre nach Erscheinen des Films.
Am Ende des Tages bleibt also ein spannender, unterhaltsamer Thriller mit kleinen Makel. Sein Lob hat
Der Vierte Mann also durchaus verdient: ich kann ihn allen LeserInnen nur ans Herz legen.