"Verlieren wir alle jeden Tag?"
Bei einem Debüt hat man, zumindest hinsichtlich der Zuschauer eher wenige Probleme. Liefert man ein überzeugendes Resultat ab, wird man möglicherweise gefeiert, haut man daneben, wird man vergessen.
Wesentlich schwerer hat man es dagegen schon beim Nachfolger. Die Entstehung dessen impliziert ja allermeist, dass der Erstling durchaus gut aufgenommen wurde. Dementsprechend hoch sind die Erwartungen an den Nachfolger. Da muss man sich dann, egal, wie man’s anstellt, die verschiedensten Kritiken gefallen lassen. Wiederholt man das scheinbar erfolgreiche Konzept, hat man nur sich selbst kopiert. Beschreitet man neue Wege, enttäuscht man die gehegten Erwartungen.
Pascal Laugier dürfte das im Vorfeld so gegangen sein, schließlich schuf er mit „
Martyrs“ nicht nur eine neue Grenzerfahrung, sondern überzeugte mit einem Konzept und vor allem einer für Horrorfilme unüblichen Drehbuchtiefe. Der Film polarisierte, schockierte und erhitzte die Gemüter, sodass die Erwartungshaltungen an den Nachfolger des neu entdeckten Autorenfilmers entsprechend ziemlich hoch waren.
So viel kann bereits zu Anfang der Rezension verraten werden: Auch „The Tall Man“ legt es geradezu darauf an, die Zuschauer zu spalten. Das Ergebnis ist allerdings erneut in mehrfacher Hinsicht höchst empfehlenswert, wobei es doch sehr anders geartet ist als der Vorgäng
er.
Im kleinen, abgelegenen Dörfchen Cold Rock macht sich seit Langem eine große Angst breit. Ständig werden Kinder entführt und niemand kommt diesem Unheil auf die Spur. Aus Machtlosigkeit dem gegenüber haben die Bewohner der allgegenwärtigen Angst einen Namen gegeben: „Der große Mann“ kommt und holt die Kinder, heißt es. Das mysteriöse Verschwinden bereitet den Menschen nach wie vor großes Unbehagen. Als der Sohn von Julia (Jessica Biel) ebenfalls vom „großen Mann“ geholt wird, schafft es die junge Frau, sich an seine Fersen zu heften. Was folgt, entbehrt jeglicher Beschreibung…
„The Tall Man“ fängt schon überzeugend an: Das verschlafene, depressiv stimmende Nest Cold Rock und dessen Bewohner erinnern in den besten Einstellungen an das soziale Elend aus Debra Graniks meisterhaftem „Winter’s Bone“. Die Erzählstimme des jungen Mädchens, die uns den Hintergrund der Geschichte näher bringt, schafft durch die sehr ausgeschmückte Wortwahl eine beängstigende Grundstimmung und die Geschichte an sich weiß sich sehr gut inkognito zu halten. Man weiß nicht genau: Gibt es den „großen Mann“? Ist es wirklich ein einzelner Täter oder eine Organisation? Oder laufen die Kinder nur weg? Vielleicht ist es auch tatsächlich ein übernatürliches Phänomen, das Böse, welches die Kinder holt…
Jeder kann Vermutungen anstellen, aber kein Zuschauer wird zu Beginn sicher sagen können, worum es sich dabei handelt und in welche Richtung das alles gehen wird.
Dabei beginnt Laugier seinen Film, indem er sich üblicher Genrezutaten bedient. Es gibt seltsam anmutende Dorfbewohner, die von allen als lächerlich abgestempelt werden. Die unheilvolle Geschichte scheint alle Menschen zu erschüttern. Und natürlich gibt es auch den einen oder anderen, teilweise sogar unerwarteten Schockmoment, eine Verfolgung durch den dunklen Wald und vor allem den vermummten „großen Mann“.
In dem Moment, in dem man sich jedoch sicher wähnt, man würde nur einen der unzähligen Genrevertreter sehen, macht der Film eine Kehrtwende und wirft den Zuschauer ins kalte Wasser. Wunderbar, wie konsequent man hier aufs Glatteis geführt wurde, um dann für ungefähr 15 Minuten überhaupt nicht zu wissen, wie der Hase läuft.
Dafür bedient sich Laugier eines effektiven narrativen Mittels: Er wechselt die Erzählposition. Plötzlich ist die einstige Hauptfigur kaum noch von Belang bzw. steht in einem völlig anderen Licht da und der Fokus rückt auf die kleine Jenny (Jodelle Ferland), über die wir allerdings auch nicht viel wissen, was sich aber in den folgenden Filmminuten ändern wird.
Es ist eine Freude, wie der Film wirklich spürbar macht, was er eigentlich aussagen will. Wie er beginnt wie ein typischer Horrorstreifen und dann doch die Kurve kriegt, um uns in nahezu dramatischem Kontext fast philosophische Fragen aufzudrücken. Und das alles unterstützt durch eine nicht allzu offensichtliche Inszenierung (Kompliment an die Regie für diese unaufdringliche, anspruchsvolle Arbeit) und eine wirklich hervorragende Jessica Biel. Man mag es kaum glauben, aber was sich in „Powder Blue“ andeutete, wird hier noch deutlicher herausgearbeitet: Auch Fr. Biel ist mehr als Justin Timberlakes Ehefrau, sondern mit zunehmender Routine eine wirklich gute Schauspielerin!
Und trotzdem kommt man nicht umhin, Parallelen zu „
Martyrs“ zu finden. Auch jener begann als Horrorfilm und wandelte sich dann in richtig tiefgehendes Kino. Und vor allem die jeweiligen zweiten Filmhälften sind es, die doch entscheidende Gemeinsamkeiten aufweisen. So ist die klare, überzeugende Präsentation der zweiten, intensiveren und gehaltvolleren Hälfte beiden Filmen gemein. Und auch inhaltlich merkt man, dass Laugier ein Mensch ist, der nicht einfach nur stumpfe Filme drehen will, sondern sich des Mediums Film bedient, um Fragen aufzuwerfen, um Dinge anzuprangern, um nachdenklich zu machen.
Dies ist ihm auch mit „The Tall Man“ erneut sensationell gelungen und daher darf der „große Mann“ ohne weiteres als Geheimtipp bezeichnet werden.
Wird sicher nicht jedem gefallen, muss er aber auch gar nicht. Seine Freunde werden ihn zu schätzen wissen.
Nun mag man sich tatsächlich daran stören, dass der Film sich in kleineren Momenten doch einmal verzettelt und im Nachhinein nicht unbedingt jede vorher gesehene Handlung Sinn ergibt. Im Großen und Ganzen allerdings sorgt der Streifen wie kaum ein anderer in letzter Zeit für Aha-Erlebnisse und Wow-Effekte. Es ist ein wirklich schönes Gefühl, von einem Film, von dem theoretisch gar nicht so viel zu erwarten ist, nicht veräppelt zu werden, sondern wirklich Stoff zum Nachdenken zu bekommen.
Natürlich gibt es weitaus „größere“ Filme, Genre-Referenzen etc., die die vollen Sterne hier verdient haben. Und trotzdem bekommt auch „The Tall Man“ an dieser Stelle trotz kleinerer Macken alle möglichen Sterne, ganz einfach, weil er den Zuschauer Ernst nimmt und im Endeffekt sogar einen Dialog mit ihm führt. Für dieses Entgegenkommen kann es nur diese Wertung geben.