von Asokan Nirmalarajah
Bei den Filmfestspielen von Cannes, die dieses Jahr bereits zum 64. Mal stattfanden, handelt es sich um eine nicht wenig elitäre Veranstaltung des internationalen Kunstkinos, die sich alljährlich ganz und gar einer leidenschaftlichen Huldigung der Hybris besonders ambitionierter und unkonventioneller Autorenfilmer verschreibt. Im Mittelpunkt des Interesses unzähliger Kritiker und auserwählter Jury-Mitglieder steht dabei selten die Frage, ob der (manchmal nicht einmal) fertig gestellte Film als Kino-Unterhaltung und/oder Kunstwerk mehr oder weniger gelungen ist. Viel mehr Aufmerksamkeit kommt dem narrativen oder ästhetischen Wagemut der Filmemacher zu, von denen kaum einer beim Vornamen genannt wird, weil man doch als kundiger Filmliebhaber sie und ihre jeweilige unverwechselbare Handschrift als Auteure an ihren berühmten, vielsagenden Autorennamen erkennt. Als Olivier Assayas, ein französischer Filmemacher, der früher für das Magazin
Cahiers du cinéma, der Brutstätte der Auteur-Theorie, schrieb und sich spätestens mit dem eleganten Kunstfilm
Irma Vep (1996) selbst als Auteur etablieren konnte, 2010 in Cannes sein fünfeinhalbstündiges Biopic
Carlos (dt. Titel:
Carlos – Der Schakal) vorstellte, war man wieder sehr begeistert.
Bot die 330minütige, multilinguale, sich über viele Länder und Jahrzehnte erstreckende cineastische Tour de force doch für die nimmermüden Berichterstatter auf der Suche nach dem neuesten Meisterwerk des Kinos, die sich an einem Tag in Cannes gleich in mehrere Filmvorführungen zu drängeln pflegen, ein filmisches Novum. Die französisch-deutsche Großproduktion
Carlos, die zeitgleich als dreiteiliges Fernsehdrama auf dem französischen Fernsehsender Canal+ lief, überzeugte die Kritiker als episches, ambitioniertes Porträt des berühmt-berüchtigten Terroristen Ilich Ramírez Sánchez, der in den 1970er Jahren als "Carlos der Schakal" durch die internationale Presse geisterte. Dabei war es weniger die realitätsgetreue Rekonstruktion historischer Ereignisse, mit denen die erste Fernseharbeit des Regisseurs den Zuschauern imponierte. Beifall fand eher die audiovisuelle Wucht, inszenatorische Dynamik und der erzählerische Elan, die die episodenhafte Geschichte vom aufregenden, spektakulären Werdegang eines international gesuchten Revolutionärs antreiben. Dafür gab es Anfang des Jahres den Golden Globe für die beste TV-Produktion und eine Schauspieler-Nominierung für den hochgelobten Hauptdarsteller Èdgar Ramírez.
Erzählt wird vom Aufstieg und Fall der berühmtesten Terroristenpersönlichkeit der 1970er und 80er Jahre, dem selbsterklärten venezuelanischen Idealisten und Freiheitskämpfer Ilich Ramírez Sánchez, der heute in dem bekannten französischen Gefängnis La Santé eine lebenslange Freiheitsstrafe absitzt. Über die Darstellung seiner Person und geschichtlicher Ereignisse in Assayas’ Film hat er sich sehr entrüstet und bis zuletzt eine Veröffentlichung des Films durch seine Anwälte zu verhindern versucht. Dabei geht Assayas in seinem langen, aber seltsam substanzlosen Werk nicht mal so hart gegen ihn ins Gericht. Der Film-Carlos wird als narzisstischer Playboy und Lebemann mit Allmachtsphantasien präsentiert, für den die Berufung zum Terroristen das einzige Ventil für seine enorme Lebensenergie und Potenz darstellt. Ob er nun nach einem erfolgreichen Bombenattentat nackt und nass von einem Bad vor seinem Spiegel stolziert oder eine Handgranate und eine Pistole als Sexspielzeug zwischen die Beine einer seiner unzähligen Geliebten reibt, der Schakal (mit vollem Körpereinsatz vom charismatischen Newcomer Èdgar Ramirez gegeben) wirkt hier häufig wie ein arroganter Rockstar, der nur zufällig zur Waffe findet.
Der Mehrteiler, der international auch als 140minütige Kinofassung ausgewertet wurde, findet leider nur zu wenig mehr Einsichten in die Psyche des ambivalenten, nicht besonders sympathischen Protagonisten. Statt eine klare Stellung zu der Hauptfigur und ihren vielen Kollaborateuren und Antagonisten zu beziehen, werden bekannte Geschehnisse dicht aneinandergereiht und die Handlung springt von einem (manchmal unfreiwillig komisch missglückten) Attentat zum nächsten ohne sonderlich viel Einblick in die Motivation und Planung derselben zu geben. Besonders wichtige Figuren im Leben des Schakals tauchen kurz auf, bekommen eine Infotafel über ihre Rolle im großen Terrornetzwerk und verschwinden dann auch schon wieder. Das sorgt für eine kritische Distanz zu den Figuren des Films, aber auch zu der Handlung, die man ohne historisches Vorwissen nicht immer nachvollziehen kann. Die formalen Qualitäten des Mammutwerks, das im letzten Drittel viel von seiner anfänglichen Energie einbüßt, machen ihn über seine gesamte Laufzeit zwar ansprechend, aber eine Legitimation seiner ausschweifenden Laufzeit bleibt das inhaltlich nicht sonderlich tiefgründige oder facettenreiche Zeitkolorit einem letztlich doch schuldig.
Die DVD und Blu-Ray zum Film (sowohl als Director's Cut und als Kinofassung) aus dem Hause Warner bieten als Extras neben Trailern einige interessante Interviews mit dem Regisseur Assayas und seinen Darstellern.