(Belgien / Niederlande, 2007)
Start: 08.05.2008
„Du kannst kein Endgame spielen, ohne deine Heilerin…“
Kinder können Bastarde sein. Jugendliche sowieso. Ihre sadistische Kreativität kennt keine Grenzen und kein Halten. Ob das Zitat von Thomas Hobbes stimmt, dass der Mensch des Menschen Wolf ist? Es gibt Momente, da könnte man nicht widersprechen, mag man noch so viel Rousseau gelesen haben. Mitleid als natürliche Begabung? Selten so gelacht!
Allerdings könnte man auch dem französischen Philosophen zustimmen, wenn er behauptet, dass der Mensch seinen Sadismus erst in der Vergesellschaftung voll entfaltet und auslebt. Aber da es im Grunde nichts gibt, was außerhalb des Gesellschaftlichen existiert (auf so viel Soziologismus wollen wir uns einfach mal einlassen), wird diese Beobachtung sowieso obsolet.
Ben (Greg Timmermanns), ein schlaksiger 17-Jähriger, gehört zu den Opfern dieser Entfaltungen. Er leidet am Asperger-Syndrom, der abgeschwächten Form von Autismus. Der einzige Ort, an dem er glücklich sein kann, ist die Parallelwelt des Fantasy-Computerspiels „Archlord“, wo er sich als hünenhafter Kämpfer Ben X Ruhm und Macht erspielt hat.
Außerhalb des mythischen Pixeluniversums sieht es schlecht für ihn aus. In der Schule fristet er ein Dasein als prototypischer, dauergehänselter Außenseiter. Seiner überfor
derten Mutter (Marijke Pinoy) und ein paar wohlmeinenden Lehrern und Mitschülern steht eine Gemeinschaft gegenüber, die ganz und gar unfähig ist, Menschen in ihrer Andersartigkeit zu akzeptieren, geschweige denn zu respektieren.
Und wie jeder Prügelknabe hat auch Ben ein paar Peiniger gefunden, die es in zermürbender Regelmäßigkeit auf ihn abgesehen haben. Bogaert (Titus De Voogdt) und Desmedt (Maarten Claeyssens). Die Klassenrambos, natürlich. Menschen, die Schwächere als Selbstwertnahrung brauchen wie die Blumen das Wasser.
Der Lichtstrahl in Bens Leben ist Scarlite (Laura Verlinden), seine Partnerin im Spiel, seine Heilerin. Sie scheint ein gleichaltriger Mensch zu sein, der bereit ist, Ben zu akzeptieren, zu lieben – so wie er ist. Auch in der echten Welt. Doch zu diesem Zeitpunkt deuten die Zeichen bereits auf einen großen Knall hin.
Ben X wurde auf dem International Filmfestival 2007 und der diesjährigen Berlinale ein großer Publikumserfolg. Das hängt zum einen mit der größten visuellen Auffälligkeit des Films zusammen, Realität und Computerwelt miteinander zu vermischen und zu synchronisieren. Der Schulhof wird zum Schlachtfeld, die realen Gegner zu monströsen Pixelfratzen. Immer wieder schieben sich Punktestände und Lebensenergieanzeiger in Bens Wahrnehmung. Alltag ist dann ein Konzept, das eins zu eins in die Phänomenologie und Dynamik eines Computerspiels übertragbar ist.
Die eingeflochtenen Interviewsequenzen, in denen die Protagonisten von der ‚großen Katastrophe’ reden, sind selbstredend in einer Ungenauigkeit gehalten, die den Zuschauer auf eine Fährte lockt, die direkt nach Erfuhrt führt. Doch Regisseur Nic Balthazar, der auch die Romanvorlage „Nichts war alles, was er sagte“ schrieb, möchte woanders hin. Geradewegs zu auf ein Ende, das haarscharf an religiösem Erweckungskitsch vorbeischrammt. Und einen Augenblick lang der schönen Illusion erliegt, dass auch die Bösen zu Einsicht und Reue fähig seien. Selbstbehauptung ist möglich, sogar eine sachte Form von Rache. Eine Lektion in Sachen Menschlichkeit, eine Katharsis. Eigentlich ein schöner Schluss.
Man mag auch darüber hinweg sehen, dass Balthazar so viele Jugenddiskurse in seine Geschichte gestopft hat, dass man sich mitunter in der Verfilmung eines humanistisch designten Deutschbuches für die Sekundarstufe 1 wähnt: Außenseitertum und Ausgrenzung, Behinderung, Cyberspace-Eskapismus, Mobbing in der Schule, Mobbing im Internet, Todessehnsüchte von Jugendlichen.
Und bei dem Spiel „Archlord“ handelt es sich um ein echtes Spiel. Ist da nun Product Placement-Alarm nötig? Weil es zudem bizarr ist, wenn ein Film doch eigentlich ganz zart darauf hinweisen will, dass es eine Welt außerhalb der elektronischen gibt – und dann auf seiner Homepage mit einem Gewinnspiel wirbt, das als 1. Preis einen PC unters Volk wirft? Aber lassen wir das.
Balthazars Inszenierung hat eine universelle Qualität, die nichts mit technischem Modernismus zu tun hat. Die stärksten Momente hat
Ben X, wenn er Ben und Scarlite in inniger Zweisamkeit zeigt. Wenn er dem Zuschauer begreiflich macht, dass Ben, dass eigentlich jeder Mensch auf dieser Welt nichts sehnlicher will und nichts dringender braucht als einen anderen Menschen. Der ihn liebt, der ihn hält, der ihm treu bleibt, selbst wenn der Rest der Welt zum Teufel geht.
Das ist die Botschaft. Dass Jeder eine Heilerin oder einen Heiler braucht. Umso perfider, dass man Ben dieses überlebenswichtige Glück zum Schluss dann doch nicht gönnen will. Dass nur die Genugtuung bleibt – und die vage Hoffnung auf bessere Zeiten.
P.S.: Zum Schluss sehen wir noch einmal eine Szene aus der ersten halben Stunde des Films, wie Ben auf den Tisch gehievt wird, nur um dort von seinen Mitschülern noch mehr erniedrigt zu werden. Im Hintergrund, an der Tafel, das Thema der letzten Religionsstunde, die Theodizee-Frage: „Wo ist Gott?“ An und für sich eine berechtigte Frage, aber in diesem Fall fehl am Platz. „Gott“ hat mit dem, was wir in diesem Film sehen, überhaupt nichts zu tun. Das ist pure Ablenkung.